II. Tod
Am Montag, dem 28. Juni 2010 kam Kirsten Heisig vormittags wie üblich zum Dienst und besuchte anschließend einen Verwandten, ohne dass an ihrem Verhalten etwas auffällig erschienen wäre. Am Nachmittag verschwand sie spurlos. Nachdem sie vermisst gemeldet worden war, blühten sofort Mordspekulationen auf – unter den von ihr Verurteilten gab es schließlich genügend Kandidaten, die sich nicht an die Gebote der Zivilisation gebunden fühlten. Polizei und Senat wiegelten sofort ab: Es gebe keine Anhaltspunkte für Entführung oder gar Mord. Relativ früh fand man den verlassenen Wagen der Richterin beim Tegeler Forst. In einer aufwändigen Suchaktion durchkämmte man nun die umliegenden Wälder, aber erst am Samstag, dem 3. Juli wurde Kirsten Heisigs Leichnam gefunden, erhängt an einem Baum, wie es hieß. Die damalige Justizsenatorin Gisela von der Aue beeilte sich, den Tod der Richterin offiziell als Suizid zu deklarieren, noch bevor eine forensische Untersuchung stattgefunden hatte. Und bei dieser Haltung blieb man auch weiterhin, immerfort beteuernd, man hätte wirklich alle Möglichkeiten abgecheckt, doch keinerlei Fremdverschulden feststellen können.
Tatsächlich sind die Argumente, die für einen Selbstmord sprechen, eher schwach. Sie bestehen darin, dass Kirsten Heisig vor Jahren schon einmal versucht hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen, dass sie sich nach eigener Aussage in ihrer Arbeit häufig als Exotin und Einzelkämpferin empfand und dass sie auch privat an Problemen litt, denn sie lebte zuletzt in Scheidung und von ihrer Familie getrennt. Auch die quasi kriminalistischen Fakten sind nicht wirklich überzeugend: ein Antidepressivum in Überdosis, das man in Kirsten Heisigs Körper nachwies, eine SMS, die sie angeblich an ihre Töchter geschrieben haben soll – sowas hätte auch ein Täter arrangieren können.
Was aber vor allem misstrauisch macht, ist die Tatsache, dass sich Polizei und Justiz einen Selbstmord so offenkundig dringend wünschten. Alles andere hätte unabsehbare Konsequenzen nach sich gezogen. Womöglich wäre man mit dunklen Mächten aneinandergeraten, die es offiziell gar nicht gab, die aber inoffiziell schon seit Jahr und Tag das öffentliche Leben unterminierten. Und man hätte der Tatsache ins Auge blicken müssen, dass eine aufmüpfige Richterin, sobald sie gewisse Grenzen überschritt, im eigenen Land nicht mehr sicher war. Wer unter diesen Umständen die Selbstmord-Theorie vorbehaltlos hinnahm, der musste schon so schlicht an den Rechtsstaat glauben wie ein Kind an den Weihnachtsmann.
Überwältigend sind indes die Gründe, die gegen einen Selbstmord Kirsten Heisigs sprechen. Der Buch- und Filmautor Gerhard Wisnewski zählt sie in seinem Film „Geheimsache Selbstmord“ im Rahmen eines Interviews auf. Der Mann gilt als Verschwörungstheoretiker par excellence und mag das in Bezug auf andere Ereignisse auch sein. Doch was er zum Tod Kirsten Heisigs äußert, klingt größtenteils sehr einleuchtend. Er macht geltend, dass in ihrem Fall keines der psychischen Grundmuster erkennbar ist, die Menschen üblicherweise zum Selbstmord motivieren. Kirsten Heisig hatte eine Arbeit, die sie erfüllte und in der sie herausragend war, herausragend auch dort, wo sie angefeindet wurde. Sie hatte zwei Töchter im Teenie-Alter, denen sie ungeachtet ihrer Ehescheidung sehr nahestand – es soll höchst selten vorkommen, dass Mütter von noch minderjährigen Kindern ihrem Leben freiwillig ein Ende setzen.
Doch was für mich als Autorin die Selbstmordtheorie am nachdrücklichsten widerlegt, ist der Umstand, dass Kirsten Heisig damals kurz vor der Herausgabe ihres ersten Buches stand. Schon in wenigen Wochen sollte „Das Ende der Geduld“ erscheinen, alle Verlagstermine standen fest, und es waren auch schon mehrere Interviews und Talkshow-Auftritte vereinbart worden, die das Buch promoten sollten. Kirsten Heisig hatte jahrelang daran geschrieben, und sie wusste, dass es einen Zündstoff enthielt, der Aufsehen erregen und die Sphäre ihrer Arbeit in den Fokus der Öffentlichkeit rücken würde. „Das ist ja fast wieder wie eine Geburt“, kommentiert Gerhard Wisnewski. Etliche Freunde und Bekannte bezeugen, wie gespannt und aufgeregt Kirsten Heisig dem Erscheinen des Buches entgegensah, nicht anders als jeder x-beliebige Autor. Auch ich kenne diese Lebenssituation, und ich bin sicher, sie wäre die letzte gewesen, die ich mir für einen Selbstmord ausgesucht hätte. An diesem Punkt will man unbedingt wissen, wie das alles weitergeht, wie das geistige Kind, das man geboren hat, von der Welt aufgenommen wird.
Neben den psychologischen macht Gerhard Wisnewski auch faktische Ungereimtheiten geltend: Warum hat man die Tote so spät gefunden? Einen Leichnam, der bei brütender Sommerhitze tagelang im Wald liegt, und zwar ganz in der Nähe von belebten Fußgängerwegen, hätte man doch kilometerweit riechen müssen. Und was ist aus dem Hund geworden, den Kirsten Heisig zum Joggen immer mitnahm? Wisnewski richtete diese Fragen an die zuständigen Behörden, bat um Erklärung der fragwürdigen Details, berief sich auf seinen Status und seinen Aufklärungsauftrag als Journalist, doch die Berliner Staatsanwaltschaft verweigerte ihm jede Information, da über den Fall Heisig eine strikte Nachrichtensperre verhängt worden war.
Nun zog Wisnewski vor Gericht und begehrte Auskunft zu all diesen Punkten unter Berufung auf das Pressegesetz. In erster Instanz wurde er abgeschmettert, doch das Oberverwaltungsgericht Berlin, bei dem er in Berufung ging, gab ihm erstaunlicherweise Recht – vielleicht ganz einfach aus der Einsicht heraus, dass die Nachrichtensperre nur geeignet war, die Gerüchteküche erst recht zu befeuern. Aber auch dieses zweite Urteil, das vielen als ein Meilenstein im Presserecht galt, brachte den Argwohn nicht zum Verstummen. Zwar veröffentlichte die Staatsanwaltschaft Berlin, mit großer Verzögerung und sichtlich ungern, eine vierseitige Verlautbarung, die einige der gewünschten Auskünfte enthielt. Doch viele Fragen blieben weiterhin offen; insbesondere der mentale Hintergrund des behaupteten Selbstmords liegt in völligem Dunkel.
Es muss eine gespaltene Persönlichkeit gegeben haben. Es muss zwei Kirsten Heisigs gegeben haben … und die andere Persönlichkeit hat dann letztendlich über die Kirsten Heisig gesiegt, die ich kannte.
So sinniert in dem Film „Tod einer Richterin“ Heinz Buschkowsky, der ehemalige Bürgermeister von Neukölln, der mit Kirsten Heisig gut befreundet war. Er kauft den Behörden zwar den Selbstmord ab, doch er kann ihn sich selbst nicht anders erklären als durch das plötzliche Erscheinen einer zweiten, einer dunklen Kirsten Heisig, die über ihr wahres Ich triumphierte. Theoretisch möglich, aber wirklich überzeugend ist auch diese Erklärung nicht. Persönlichkeitsspaltungen mag es geben – man würde ja sonst nicht immer wieder Krimihandlungen darum konstruieren –, doch selbst diese würden sich im Vorfeld äußern, würden erkennbare Ursachen haben. Ein Selbstmord kommt niemals aus heiterem Himmel; immer werden vorher Warnzeichen und Hilferufe ausgesandt, die von den Mitmenschen zumindest im Nachhinein auch als solche gedeutet werden können.
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