Was ist ein Kunstwerk? Die Justiz wird poetisch
Allein der hierzu gefällte Gerichtsbeschluss enthielt eine Positionierung, die sich las wie ein vorweggenommenes Urteil. Und ähnlich entmutigend klang auch alles andere, was von Seiten des Gerichtes verlautete. Bezeichnend war etwa die „Kunstwerk-Debatte“, die sich beim Vorgeplänkel der Anwälte entspann. Die Frage, ob das streitgegenständliche Bild als Kunstwerk anzusehen sei, war urheberrechtlich von einiger Bedeutung. Mein Anwalt argumentierte, es handele sich hier lediglich um eine Computergraphik, die keinen künstlerischen Wert erkennen lasse. In der Gegenargumentation wurde der Abmahnanwalt fast poetisch, als er sich ausführlich über die „einzigartigen Wellenführungen und Spiegelungen im Wasser“ sowie die „tiefgründige und philosophische Nachricht“ verbreitete, die das Gemälde transportiere. Das konnte ich noch halbwegs komisch finden. Doch das Schmunzeln verging mir, als ich lesen musste, dass auch die zuständige Richterin, eine offenbar kunstbeflissen angehauchte Dame mit Doppelnamen, die Frage, ob Aladins Bild ein Kunstwerk sei, entschieden, ja vehement bejahte und dabei den Abmahnanwalt an Poesie sogar noch übertraf:
"Der Kläger hat das Bild einer Wasserlandschaft geschaffen, die sich ins Unendliche zu erstrecken scheint, ebenso wie der die Farben der bewegten Wasseroberfläche aufnehmende wolkenverhangene Himmel. Durch das Zusammenspiel von Wasseroberfläche, Himmel und seitlichem Lichteinfall scheint die Stimmung des Bildes zwischen Erwartung, vermittelt durch die Abbildung eines gefalteten Papierschiffchens in der Bildmitte, und Bedrohung zu schwanken."
Wann findet man wohl einmal solch glühende Worte in einem amtlichen Gerichtsbeschluss? Aladin brachte das Gericht zum Schwärmen – das gab mir endgültig den Rest. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass die deutsche Justiz eine derart sonderbare Kunstförderung betreiben könnte, dass sie ihre Urteile so ungeniert nach dem subjektiven Kunstgeschmack der Richter bemaß. Gerade diesen Punkt hatte ich immer als besonders dreiste Unverschämtheit empfunden: dass hier ein Acrylbildmaler, der auf seiner Homepage kein einziges Bild für mehr als hundert Euro feilbot, die Stirn hatte, den Wert einer Computergraphik, die seit mindestens sechs Jahren vergeblich eines Käufers harrte, mit einem Phantasiepreis von 15.000 € anzugeben. Ich hatte mich empört gefragt, wie der Mann mit einem derart primitiven Manöver durchgekommen war. Prüfte denn niemand vor der Zulassung einer Klage die Verhältnisse nach? Konnte jeder Urheber ein Bild einfach nach seiner eigenen Gier taxieren? Und jetzt erwies sich, genauso war es. Im Grunde musste ich Aladin dankbar sein, dass er bei der Bemessung des Gegenstandswertes nicht gleich noch eine Null draufgelegt hatte.
In einem anderen Punkt war das Gericht sogar so nett, den Job des Abmahnanwalts zu erledigen: Er betraf die Zustimmung des Urhebers per email, die ich ursprünglich für ein Argument zu meinen Gunsten gehalten hatte, um so mehr, als die Klägerseite darauf nur mit völliger Abwehr reagierte: Noch bis zur Hauptverhandlung behauptete sie steif und fest, die „angebliche email“, wie der Abmahnanwalt sie zu nennen pflegte, existiere nicht, sie sei eine Fälschung, Aladin E. habe sie nie geschrieben. Ich machte mich schon auf eine kostspielige forensische Untersuchung gefasst, als überraschend das Gericht der Diskussion die Spitze abbrach: Es erklärte die email zwar für echt, aber als Zustimmung für wertlos. Aladin hatte darin die Bitte nach einem Belegexemplar geäußert, der ich nicht nachgekommen war; zumindest wusste ich nichts mehr davon und hatte auch keine Belege dafür. Außerdem fehle in meinem Kalender die Namensnennung des Bildurhebers, was ein Hauptkriterium für die Annahme eines Verstoßes sei.
Das war schlüssig – so absurd es auch anmuten mag, dass gerade meine Anfrage bei Aladin E. mir jetzt den Hals brach. Hätte ich meine „Untat“ verheimlicht und Aladin E. keine Mail geschickt, so wäre mir wohl nie etwas passiert, weil er dann nie von dem Kalender erfahren hätte. Ich hatte versucht, das Spiel ehrlich zu spielen; das war die Ursache meines Scheiterns. Das Gericht hatte – im Gegensatz zum Abmahnanwalt – die Schwachstelle in meiner Verteidigung gefunden. Und nachdem feststand, dass die Zustimmungsmail mir nicht nur nichts nützte, sondern sogar schadete, räumte auch Aladin E. großmütig ein, dass er sie vielleicht doch geschrieben hatte; er erinnere sich nur nicht mehr daran.
Aladin konnte sich Gedächtnislücken leisten – ich nicht, denn die Verjährungseinrede wurde ebenso negiert wie jede andere. Weder meine Anfrage vom Juli 2008 noch meine fortgesetzten Newsletter an Aladin E. ließ das Gericht als Information über meine Verwendung des Bildes gelten. Es ließ auch nicht gelten, dass der Jenseits-Kalender schon seit 2008 unter ein und derselben ISBN im Verzeichnis lieferbarer Bücher stand und seither nur kalendarische Nachauflagen, aber keine gestalterischen Veränderungen erfahren hatte. Vielmehr wurde die Herausgabe des Kalenders für jedes weitere Jahr jeweils als Neuerscheinung interpretiert, und folglich auch als neuer Eingriff in Aladins Urheberrecht. Als Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Klägers wurde der Herbst 2013 festgesetzt.
Was blieb mir noch an Argumenten übrig? Richtig, die Bearbeitung des Bildes – die Reduktion auf einen unwesentlichen Ausschnitt und die Darstellung in einem völlig anderen Kontext. Wen überrascht es, dass auch dieser Aspekt, genau wie alle anderen, im Sinne des Klägers entschieden wurde. Weder bildete mein Jenseits-Kalender für das Gericht ein anderes Werk noch sah es meinen Eingriff in die Bildstruktur als wesentlich an. Bei meiner Bearbeitung handele es sich „allenfalls um eine rein technische, jedoch keine eigenschöpferische, künstlerische Leistung der Beklagten“. Dass es mir gar nicht um das Bild selbst, sondern lediglich um ein Stück Horizontlinie gegangen war, ein Hintergrundmotiv, das sich jederzeit leicht durch ein anderes ersetzen ließ, interessierte niemanden und wurde überhaupt nicht thematisiert.