Die Welt der Subunternehmer
Das warme Mittagessen ist Massenware, zubereitet von der Großküche der Firma Apetito in Rheine. Die Gerichte werden schockgefroren in die ganze Bundesrepublik geliefert und dann kurz vor der Auslieferung wieder erwärmt. Es scheint, dass Apetito, zumindest in Berlin, eine Monopolstellung für das sogenannte „Essen auf Rädern“ innehat. Zwar wird es von verschiedenen Anbietern vertrieben, hauptsächlich großen Wohltätigkeitsorganisationen. Doch sie alle beziehen die Menüs ausschließlich über Apetito. Mitunter wechselt ein Kunde den Anbieter in der Hoffnung, dass es anderswo besser schmeckt; doch ob er nun beim DRK bestellt, bei Caritas oder den Johannitern, immer findet er denselben Fahrer vor der Tür, und immer trägt das Menü, das ihm gereicht wird, unvermeidlich das Logo von Apetito.
Wir Lieferanten arbeiten allerdings nicht direkt für Apetito, sondern für die selbstständigen sogenannten Subunternehmer der Firma, die jeweils für die Belieferung bestimmter Gebiete oder Bezirke zuständig sind. Durch dieses Outsourcing des logistischen Bereiches spart sich Apetito nicht nur eine eigene Autoflotte, sondern auch die arbeitsrechtliche Verantwortung, denn die Subunternehmer handeln in absoluter Eigenregie. Sie stellen die Touren zusammen, heuern Fahrer dafür an und zahlen deren Löhne aus.
Toby, mein Chef, ist schon seit 23 Jahren für Apetito tätig, und wie er seine Leute auswählt, ist klar: Er nimmt einfach jeden Bewerber an und baut darauf, dass sich die Spreu vom Weizen trennt. Morgens auf dem Hof kann man die Leute sehen, die er an Land gezogen hat: Rentner, Migranten, Langzeitarbeitslose. Es sind die Outlaws des Arbeitsmarktes, Menschen, die kaum Aussichten auf einen regulären Job haben. Gut möglich, dass Toby davon ausgeht, ein gutes Werk zu tun, und Dankbarkeit erwartet, wenn er uns Chancenlosen eine Chance gibt. Und tatsächlich scheinen die meisten Fahrer mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein und sie voller Engagement zu erfüllen.
Besonders die Rentner sind hochmotiviert. Viele haben die Siebzig weit überschritten, selbst Achtziger sind keine Seltenheit. Vielleicht haben sie einmal hier angefangen, um ihre mageren Renten aufzubessern, doch was sie hält, ist sicherlich nicht nur das Geld. Ich sehe alte Herren regelrecht aufblühen im täglichen Schwatz mit den Kollegen, in den Festlegungen zur Tourenplanung, im Bewusstsein ihrer eigenen Rüstigkeit und Nützlichkeit. Wieviel glücklicher wirken sie als die fernsehenden, Kreuzworträtsel lösenden und Hunde ausführenden Durchschnittsrentner, denen man im Alltag begegnet! Hier kann man lernen, dass in einem bestimmten Alter nicht nur der Arbeitsplatz ein Privileg ist, sondern auch die Arbeitsfähigkeit. Die ständige Konfrontation mit Menschen, die, obwohl an Jahren kaum älter als man selbst, schon von Verfall und Tod gezeichnet sind, verstärkt in begeisternder Weise das Gefühl, noch halbwegs gut beieinander zu sein, noch im Berufsleben zu stehen, noch mitzuzählen auf dieser Welt. Ich erfahre das auch an mir selbst: Nie bin ich so enthusiastisch Treppen gestiegen wie in diesen Wochen, nie vor den Leuten mit solch forcierter Beschwingtheit und Fröhlichkeit aufgetreten. „Das Essen!“, jodele ich durch die Sprechanlagen. Es ist, als müsste ich im Angesicht des mich umgebenden Elends demonstrieren, wie ungeheuer gut es mir geht.
Ich lerne eine Fahrerin kennen, die schon seit fast zwanzig Jahren dabei ist. Dabei hat sie es, sagt sie, finanziell gar nicht nötig. Aber was soll sie, seit langen Jahren Witwe, allein bei sich zu Hause anfangen? Für die gängigen Rentnerbeschäftigungen fehlt ihr jedes Interesse. Doch das Essenaustragen macht ihr Spaß, und das viele Treppensteigen hält sie fit. Vor allem mag sie den Umgang mit den Kunden. In den Jahren auf immer derselben Tour hat sie mit einigen regelrecht Freundschaft geschlossen. Erst heute hat sie wieder eine halbe Stunde verquatscht, weil sie zwei alten Leutchen beim Ausfüllen eines Antragsformulars half. So etwas ist für sie sehr wichtig. Auch sie muss mittlerweile – was man ihr nicht ansehen, nur aus ihren Berichten schließen kann – ungefähr Mitte Siebzig sein, doch nicht im Traum käme sie auf den Gedanken, sich selbst zu den „alten Leutchen“ zu zählen. Sie wirkt drahtig, aktiv und durchtrainiert. Und jetzt muss sie auch schon wieder los: Direkt von ihrer Tour aus fährt sie noch ins Fitnessstudio.
Der Anteil an Frauen, auch jüngeren, ist hoch. Es mögen unausgefüllte Hausfrauen dabei sein, doch mehrmals fallen mir Erscheinungen auf, zu denen ich mir außergewöhnliche Biographien vorstellen könnte. Einmal sehe ich gleich eine ganze Familie, dem Aussehen nach türkischer Herkunft, die gemeinsam auf die Tour geht. Der junge Mann verlädt die Boxen, seine Frau hält ein Wickelkind auf dem Arm und in der freien Hand die Liste für die heutige Fahrt. Als sie die Zusammenstellung sieht, schreit sie auf. „Oh nein!“, ruft sie aus. „38 Kunden! Wie sollen wir das schaffen? Wir werden sterben!“