Die Hetzjagd mit der Kundenliste
38 Kunden, das ist wirklich krass – inzwischen weiß ich schon, wovon ich rede. Die Auslieferung des Seniorenessens soll möglichst nicht vor zehn Uhr morgens begonnen und bis dreizehn Uhr beendet sein. Doch sobald die Kundenzahl die Dreißig überschreitet, ist dieses Zeitfenster kaum einzuhalten, zumindest nicht an den Werktagen, wenn Busse, Lkws, Lieferantenwagen und Müllfahrzeuge die Straßen verstopfen. Ich selbst werde von Toby hauptsächlich an den Wochenenden eingesetzt, wenn die Straßen weitaus ruhiger sind. Doch ein paar Mal muss ich auch den Berufsverkehr mit einer Liste von 33 Kunden bestreiten, und dann wird der Job zu einer Hetzjagd, die erhebliche Gefahrenquellen birgt.
Bei fast jeder Tour passiert irgendetwas, was mich aufhält und den Zeitplan aus dem Takt bringt – ein kaputter Fahrstuhl, eine Menü-Verwechslung oder eine unverhoffte Straßensperrung. Und die Zeit läuft weiter, um Himmels Willen, schon zwölf, und noch immer zehn Kunden auf der Liste! Jetzt aber schnell, gleich die Abkürzung genommen, obwohl man da gar nicht durchfahren darf, und dann noch bei Tiefdunkelgelb über die Ampel. Ich würge Kunden ab, die etwas bei mir loswerden wollen, einen Änderungswunsch, eine Frage zum Menü oder einfach einen kleinen Plausch über das Wetter. Bloß weiter, schon nach eins, und noch vier Kunden auf der Liste. Einer hat schon die Zentrale angerufen und gefragt, ob denn heute noch mit dem Essen zu rechnen sei – voll peinlich! Ein Behinderter, der kaum sprechen kann, stampft mit dem Fuß auf und stammelt: „Spät! Spät!“ Nur der Allerletzte auf meiner Liste, ein stiller alter Mann, der beklagt sich nie. Auch wenn ich erst nach halb zwei bei ihm klingle, er nimmt seine Portion mit einer lächelnden Sanftmut entgegen wie der kleine Oliver Twist. Doch gerade ihm gegenüber habe ich ein besonders schlechtes Gewissen.
Einmal, als ich, die Liste im Nacken, eine Kreuzberger Hauptstraße quere, übersehe ich ein Fahrzeug auf der hinteren Spur. Infernalisches Hupen dringt auf mich ein, und ich erschrecke bis ins Mark. Mit zitternden Knien fahre ich weiter. Um ein Haar hätte es geknallt, und ich wäre eindeutig schuld gewesen. Was dann? Die Versicherung hätte mich gestuft, und wären Reparaturkosten angefallen, so hätte dieser Job, der meine Finanzlage entspannen sollte, mich endgültig in die Bredouille gerissen. Toby beteuert zwar, er hätte mich – was ich unmöglich nachprüfen kann – bei einer nicht näher benannten „Berufsgenossenschaft“ angemeldet, die für Schäden an meiner Person aufkomme. Meinen Wagen aber fahre ich auf eigene Verantwortung, und fahre ich ihn in Klump, habe ich Pech gehabt. Auch die Instandhaltungskosten trage ich selbst, und die sind auf die Dauer nicht unerheblich, denn das ständige Anfahren und Abbremsen erhöht den Verschleiß signifikant. Wie ich von den langjährigen Fahrern höre, wird bei dieser Arbeit alle zwei, drei Jahre eine neue Bremse fällig.
Toby will von Risiken und Selbstkosten nichts hören. Schließlich zahle er großzügig Kilometergeld, stolze 19 Cent pro Kilometer, soviel zahle sonst kaum jemand in der Branche, und das decke ja wohl auch die Instandhaltung ab. („Ihr Smart verbraucht doch kaum Benzin.“) Und die Unfallgefahr? Ach was, sagt Toby, in all den Jahren, die er hier schon aktiv sei, hätte er kaum eine Handvoll Unfälle erlebt. („Und Ihr Fahrzeug ist doch sowieso versichert.“) Zu viele Kunden auf der Liste? Aber nein, das komme mir bloß so vor, weil ich noch keine Routine hätte. 33 Kunden seien locker in drei Stunden zu beliefern.
Mag sein, dass ich zu langsam bin. Doch inzwischen habe ich einen Punkt erreicht, ab dem ich nicht mehr wesentlich schneller werde, denn ich kenne nun die Route mitsamt ihren Schleichpfaden und Abkürzungen. Sie ist bei Weitem nicht die härteste: Von den anderen Fahrern höre ich Zahlen bis zu 40 Kunden pro Tag. Schwer zu glauben, dass sie alle in jedem Fall, auch wenn sie noch so routiniert sind, das vorgegebene Zeitfenster halten. Aber das hinterfragt auch niemand. Für die Auslieferung wird pauschal eine Arbeitszeit von drei Stunden veranschlagt; die An- und Abfahrt zum Hof zählt grundsätzlich nicht mit. Wo es darum geht, mit einem Minimum an Fahrern ein Maximum an Kunden zu versorgen, nimmt man Beschwerden über Verspätungen in Kauf – es sind ohnehin nicht viele bei dieser gebrechlichen Klientel.
Noch weniger ist die Ausbeutung der Lieferanten von Interesse. Sie können ja gehen, wenn ihnen was nicht passt. Es gibt keine Verträge, keine Kündigungsfristen. In der Verschiebung der Verantwortlichkeiten zwischen Mutterfirma und Subunternehmern hat sich eine arbeitsrechtliche Grauzone herausgebildet, in der die Subunternehmer praktisch schalten und walten können, wie sie wollen. Es wird zwar kontrolliert, ob das Essen auch warm genug bei den Kunden ankommt. Aber niemand kontrolliert die Arbeitsbedingungen der Lieferanten. Sozialpolitische Errungenschaften wie Mindestlöhne oder Sonntagszuschläge sind hier völlig unbekannt.
Inwieweit sich die Subunternehmer mit Apetito abstimmen, ist unklar. Meinem Eindruck nach soll und will die Mutterfirma bestimmte Details nicht wissen. Einmal begehe ich einen Fauxpas: Im Büro von Apetito, wo ich einen Punkt der Tagesliste klären will, spreche ich die Befürchtung aus, ich könnte bei dieser Kundenzahl die Belieferung bis eins nicht schaffen. Die Damen im Büro reagieren irritiert und stellen Toby deshalb zur Rede. Er muss sich quasi rechtfertigen und weist mich anschließend mit Nachdruck an, doch solche Äußerungen im Büro zukünftig bitte zu unterlassen.