Das Landgericht Detmold, das über die Bestrafung der Geschwister Özmen zu befinden hatte, stand bei der Würdigung der Umstände vor einer schwierigen Aufgabe. Man konnte Osmans Geständnis nicht widerlegen, bezweifelte aber dessen Wahrheitsgehalt. Es war anzunehmen, dass die Aussagen der Geschwister eingeschworen waren und dass Osman abgesprochenermaßen die Schuld auf sich genommen hatte, weil er als Einziger der Geschwister keine Ausbildung und keine eigene Familie hatte. Wie es wirklich zu dem Mord gekommen war, konnte nie zweifelsfrei ermittelt werden.
Unklar blieb etwa die Rolle des Vaters, der an der Entführung Arzus nicht beteiligt gewesen war, diese jedoch als Patriarch der Familie mutmaßlich befohlen und zu verantworten hatte. Das Gericht ging davon aus, dass Arzu am Leben geblieben wäre, wenn der Vater, dessen Hass auf sie von mehreren Zeugen bestätigt wurde, nicht die Anordnung oder zumindest den Konsens zu ihrer Ermordung gegeben hätte. In einem abgetrennten Verfahren wurde er wegen Beihilfe zum Mord sowie wegen gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung seiner Tochter zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.
Und dann war da noch die älteste Schwester Sirin, die Überfliegerin in der Familie Özmen. Sie hatte es mit viel Fleiß zu einer gut bezahlten Stellung bei der Stadtverwaltung Detmold gebracht, war Anwärterin auf den gehobenen Dienst, dazu engagiert in der Gewerkschaft und gern ehrenamtlich tätig. Eine Bekannte erinnert sich an einen Vortrag zum Thema „Zwangsehen und Ehrenmorde“, den Sirin organisiert und bei dem sie mit wohlgesetzten Worten Zwangsehen und Ehrenmorde in Ausländerfamilien verurteilt hatte – die perfekt integrierte Migrantin.
Sirins Privatleben war weniger perfekt: Mit 27 Jahren wohnte sie noch bei ihren Eltern, wo sie auf jede Selbstständigkeit verzichten und sich wie ein Kind den strengen häuslichen Regeln des Vaters unterwerfen musste. Auch sie soll einige Jahre zuvor mit einem Deutschen befreundet gewesen sein, doch sie hatte sich für ihre Familie entschieden. War das der Grund, warum sie die abtrünnige Arzu mit solchem Fanatismus verurteilte? War das der Grund, warum sie um jeden Preis den Willen der Schwester brechen und sie zur demütigen Rückkehr in den Schoß der Familie bewegen wollte? Sirin war es gewesen, die Arzu verfolgte, die sie aufspürte wie ein Wild, das man zur Strecke bringen musste. Sie hatte sogar ihre Stellung bei der Stadtverwaltung missbraucht, um Einblick ins Melderegister zu nehmen und Arzus Aufenthalt zu ermitteln. Systematisch hatte sie die Wohnung Alexanders belauert, und als Arzu eines Nachts tatsächlich dort erschienen war, hatte Sirin unverzüglich ihre Brüder zusammengetrommelt und auf sofortige Entführung gedrängt. Sie war bei diesem Mord fraglos die treibende Kraft.
Auch Sirin wurde durch Osmans Geständnis geschützt und nur wegen Beihilfe zum Mord in Tateinheit mit Geiselnahme zu einer Haftstrafe von zehn Jahren verurteilt. Die Stadtverwaltung Detmold hatte ihr bereits gekündigt. Das tragische Schicksal dieser Frau, die in der Falle ihrer Treue und Loyalität zur Mörderin der eigenen Schwester wurde, zeigt exemplarisch die innere Zerrissenheit und den kulturellen Spagat junger Menschen aus traditionsgeprägten Migrantenfamilien.
Das Landgericht Detmold verhandelte die Sache differenziert, fair und korrekt – was in diesem Fall heißt: nicht politisch korrekt. Es hatte in den vergangenen Jahren oftmals Gerichte in Deutschland gegeben, die bei solchen als Ehrenmord klassifizierten Tötungsdelikten von Migranten einen „Kulturbonus“ vergaben und mit Rücksicht auf die fremden Landessitten mildernde Umstände gelten ließen. Nicht so das Landgericht Detmold. Hier wurde der Ehrenmord als das gesehen, was er war: die geplante, auf Frust und Rachsucht beruhende Hinrichtung eines jungen Mädchens, weil es selbstbestimmt leben und lieben wollte. Das Gericht glaubte Osman Özmen nicht, dass die Tötung Arzus im Affekt erfolgt war, und verurteilte ihn wegen vorsätzlichen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Seine Brüder erhielten mehrjährige Haftstrafen wegen Beihilfe zum Mord und/oder Geiselnahme.
Mittlerweile (Stand 2025) befinden sich die Mitglieder der Özmen-Familie – bis auf Osman, der frühestens im Jahre 2026 begnadigt werden kann – längst wieder auf freiem Fuß; einige haben noch Bewährung. Sie wohnen in demselben Haus wie früher, gehen den gleichen alltäglichen Pflichten nach; doch ihr Verhältnis zu den deutschen Nachbarn hat sich sehr stark abgekühlt. Es gibt keine Schwätzchen mehr vor der Haustür, keine gemeinsamen Grillfeste im Sommer. Die meisten Leute gehen den Özmens, erfüllt von leisem Grauen, aus dem Weg, als wäre deren frühere Freundlichkeit nur eine Maske gewesen, die sie mit dem Mord an Arzu fallengelassen hatten. Aber es gab nie eine Maske. Die Familie, die einst mit ihnen schwatzte und grillte, war genau dieselbe, die den Mord beging.
3. Hanaa
Hanaa hatte es nicht leicht im Leben. Sie war gerade fünfzehn Jahre alt, als sie von ihrer Familie im Nordirak mit einem älteren Witwer verheiratet wurde. Der Mann hatte schon drei Kinder aus erster Ehe und erwartete, dass Hanaa, obgleich sie selbst noch fast ein Kind war, Mutterpflichten an ihnen erfüllte. Nur zu bald sollte sich die Kinderschar vermehren: Hanaa wurde dreimal schwanger, so dass sie schließlich sechs Kinder zu versorgen hatte.
Mittlerweile war die Familie aus dem Irak nach Deutschland ausgewandert, wo es weitaus bessere Verdienst- und Lebensmöglichkeiten gab. Der Mann betrieb in Düsseldorf einen Kiosk, materiell ging es ihm und den Seinen nicht schlecht. Doch das liberale Klima ihrer neuen Heimat rief in Hanaa Unzufriedenheit hervor. Statt wie bisher ganz in der Hausarbeit und Kinderbetreuung aufzugehen, begann sie sich zu fragen, warum ihr alle Rechte und Freiheiten verschlossen blieben, die für deutsche Frauen selbstverständlich waren. Hanaa wurde strikt ans Haus gefesselt und von der Außenwelt, in der „Verderbnis“ drohte, fast hermetisch abgeschottet. Kaum ein Schwatz mit der Nachbarin war ihr gestattet.
Wenn sie zu widersprechen oder gar eigene Wünsche zu äußern wagte, setzte es Schläge von ihrem Mann. Den uralten jesidischen Sitten gemäß beanspruchte er sie als persönlichen Besitz, über den er nach Belieben verfügen konnte. Sie zu schlagen, hielt er für sein gutes Recht, und von Anfang an hatte er reichlich von diesem Recht Gebrauch gemacht. In Deutschland aber häuften sich die Prügelattacken in bedrohlicher Weise, was möglicherweise auch daran lag, dass Hanaa zunehmend renitent auf das Besitzerverhalten des Mannes reagierte. Sie war eine noch junge, attraktive, seelisch in sich gefestigte Frau und nicht gesonnen, den archaischen Lebensregeln, die ihr schon die Jugend verleidet hatten, auch noch den Rest ihres Lebens zu opfern.
2013 war die Ehe am Ende: Nachdem ihr Mann sie wieder einmal auf das Übelste misshandelt hatte, wagte Hanaa den entscheidenden Schritt: Sie verließ für immer die Familie, reichte die Ehescheidung ein und suchte Schutz in einem Frauenhaus. Nur ihre Tochter nahm sie mit – die beiden älteren Söhne hatten von jung auf die Partei des Vaters ergriffen und lebten ganz in seiner Welt.
Hanaa aber ging entschlossen daran, sich ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Sie belegte einen Deutschkurs. Sie fand einen kleinen Job. Sie entdeckte das Internet und chattete mit einem Mann, der ihr sympathisch war und mit dem sie sich bald regelmäßig traf. Hatte sie in ihrer Jugend nur harte Arbeit und Aufopferung für andere gekannt, so sollte der zweite Teil ihres Lebens voller Liebe und Freude sein.