Doch Hanaa hatte die Rechnung ohne den Clan ihres Mannes gemacht. Es war ein höchst rabiater und fanatischer Clan, dem die traditionellen jesidischen Lebensregeln über alles gingen und der sich einen feuchten Kehricht um die deutsche Gesetzlichkeit scherte. Schon indem sich Hanaa dem legitimen Besitz ihres Mannes entzog, hatte sie in den Augen dieser Leute Gottes heiliges Gebot gebrochen und die Ehre des gesamten Clans befleckt. Und Hanaa hatte überdies noch ihre Tochter mitgenommen – ja, sie hatte sogar – infame Dreistigkeit! – das Familiengold mitgenommen, eine Art Mitgift, die der Tradition gemäß der Braut am Hochzeitstag geschenkt wird. Ihre allergrößte Sünde aber war ihr neuer Freund, denn er hing nicht dem jesidischen, sondern dem muslimischen Glauben an, ein Umstand, der zwar das Paar selbst nicht störte, doch für den Clan entscheidend war: Indem sich Hanaa mit diesem Mann einließ, hatte sie nicht nur die Ehe gebrochen, sondern auch das heilige Gebot der Religionsreinheit. Nur ihr Tod konnte diese Schande tilgen.

Der Clan versuchte mit allen Mitteln, das Geschehene ungeschehen zu machen und sich Hanaas wieder zu bemächtigen. Man lauerte ihr auf, zerrte sie in Autos, bedrohte sie an Leib und Leben. Sie zog mehrmals in ein anderes Frauenhaus um, doch der Clan fand jedes Mal mit List und Tücke ihre jeweils aktuelle Adresse heraus. Einmal brach man gleich zu viert in ein Leverkusener Frauenhaus ein, um Hanaa daraus zu entführen. Sie musste zu ihrem Mann zurückkehren, flüchtete aufs Neue, versteckte sich und wurde wieder eingefangen. So ging das monatelang. Endlich fand sie eine eigene Wohnung in Solingen. Aber auch dort fühlte sie sich nicht sicher.

Unterdessen errang der Clan vor dem deutschen Gericht einen großen Sieg: Im Sorgerechtsstreit wurde entschieden, dass Hanaas Tochter bei ihrem Vater und bei dessen Familie besser aufgehoben sei als bei ihrer Mutter. Es bleibt unklar, was die Richter bewog, das Kind an einen Clan auszuliefern, der im Namen seines gnadenlosen Gottes agierte wie eine kriminelle Terrorbande und der das Kind voraussichtlich der Mutter für immer entziehen und entfremden würde. Wirkten hier die Gebote der politischen Korrektheit? Glaubte man, das Kind vor einem unsteten Leben auf ständiger Flucht bewahren zu müssen? Oder wurden – auch das hatte es mehrfach gegeben – die Richter selbst vom Clan bedroht?

Für Hanaa war der Verlust des Kindes ein wahrhaft niederschmetternder Schlag. Der Staat, in den sie sich integrieren wollte, fiel ihrer Selbstbefreiung in den Rücken, vollendete ihre Isolation. Nun hatte sie nichts und niemanden mehr. Sogar ihr Freund reagierte verunsichert, als ihm klar wurde, in welcher Gefahr sie schwebte. Der Clan hatte ihr ein Ultimatum gestellt: Wenn sie nicht binnen eines halben Jahres samt Familiengold zurückkehre, werde man sie töten. „Wir schlachten dich wie einen Esel“, hieß es wörtlich in der Drohnachricht.

Und genauso kam es auch. Am 21. April 2015, das Ultimatum war kaum abgelaufen, schnappte die Falle für Hanaa zu. Damals stand sie gerade im Begriff, ihre Solinger Wohnung aufzulösen, da der Clan die Adresse mittlerweile kannte. Eine Brasilianerin, Lockvogel des Clans, machte Hanaa weiß, sie hätte einen Käufer für die nicht mehr benötigten Möbel gefunden, und verabredete einen Termin mit ihr. Hanaa ging hin, doch anstelle des Käufers erschienen mehrere Männer des Clans, um sie mit Messern niederzustechen. Dann rollten sie die blutüberströmte Frau in einen Teppich ein und trugen sie zu einem vor dem Haus parkenden Kleintransporter. Dort muss es einen zweiten Kampf gegeben haben, denn Hanaa lebte noch und wehrte sich verzweifelt. Die Männer schlugen sie tot und fuhren dann mit dem Transporter eine weite Strecke bis nach Kronau in Südbaden, wo sie die Leiche im Wald verscharrten.

Am folgenden Tag wurde Hanaa von ihrem Freund als vermisst gemeldet. Als sich ihre Geschichte herumsprach, war die Anteilnahme groß. Der deutsche Staat hatte der lebenen Hanaa im Kampf um ihre Selbstbefreiung wenig Unterstützung zuteil werden lassen. Ihre Ermordung aber, deren Gründe von den Tätern kaum verhohlen wurden, weckte allgemeine Empörung und stachelte die Tatkraft der Verantwortlichen auf. Wie zur Wiedergutmachung fahndeten und ermittelten sie mit hohem Engagement, entschlossen, die Dreistigkeit des Clans zu brechen und die Gesetze des eigenen Landes durchzusetzen. Zwar Hanaas Leiche konnte man nicht finden, aber Indizien gab es zuhauf: In der Solinger Wohnung fand man Blut und Haare der Ermordeten. Nachbarn hatten gesehen, wie am mutmaßlichen Tattag ein schwerer Teppich in einen bestimmten Kleintransporter eingeladen wurde. Es konnte bald ermittelt werden, welcher Familie der Transporter gehörte, und als man ihn untersuchte, schlug der Leichenspürhund an. Alle Spuren führten zum Clan.

Schon im Sommer 2015 gab es in dem Fall eine erste Verhaftung: Hanaas Schwager, einer der Brüder ihres Ex-Mannes, wurde in Kroatien festgenommen, nachdem er aus Deutschland geflüchtet und mit internationalem Haftbefehl gesucht worden war. Noch mehr Aufsehen erregte die zweite Verhaftung, denn sie galt Hanaas ältestem Sohn. Die Ermittlungen hatten ergeben, dass der Siebzehnjährige direkt an der Ermordung seiner Mutter beteiligt gewesen war. Die Ehre der Familie stand ihm höher als die Liebe zu der Frau, die ihn aufgezogen hatte – keine Seltenheit in seiner Welt, doch auf uns Europäer wirkt gerade dieser Täter besonders erschreckend. Wie mühelos der Clan selbst im Exil seine Regeln an die nachfolgende Generation weitergab! In derart eingeschworenen Familien hörte das Mittelalter nie auf.

Schließlich wurden noch Hanaas Exmann sowie ein weiterer Schwager verhaftet, so dass man gegen vier Personen Anklage wegen Mordes erhob. Eine Schwester der Familie wurde wegen Beihilfe angeklagt. Noch immer war es ein „Mord ohne Leiche“, und so wurde er auch von der Presse genannt. Doch der Staatsanwalt zeigte sich entschlossen, trotzdem eine Verurteilung zu erreichen. Die Angeklagten schwiegen konsequent. Jedes Unrechtsbewusstsein lag ihnen fern. Hanaas Sohn trug an den Prozesstagen demonstrativ ein T-Shirt mit aufgedrucktem Totenkopf. Nebenkläger gab es keine. Niemand in der großen Familie nahm für die Abtrünnige Partei. Sogar ihre eigenen Eltern distanzierten sich von ihr. Schon als Hanaa vor ihrem prügelnden Ehemann zunächst zu ihnen geflüchtet war, hatten sie sie ihm sofort wieder ausgeliefert.

Die Verhandlung fand ab Juni 2016 vor dem Landgericht Wuppertal statt und entwickelte sich zum längsten und aufwändigsten Strafprozess, der in Nordrhein-Westfalen je geführt worden war. 102 Verhandlungstage kamen über anderthalb Jahre zusammen, Hunderte von Zeugen wurden gehört, riesige Aktenberge häuften sich an. Lange stand die Verurteilung auf der Kippe, denn das Fehlen der Leiche fiel schwer ins Gewicht. Doch der 70. Verhandlungstag brachte die Wende: Der Hauptangeklagte, Hanaas Schwager, legte überraschend ein Teilgeständnis ab und führte die Ermittler zu dem Waldstück, wo Hanaas Leiche begraben lag. Zermürbung? Reue? Oder Kalkül, um eine mildere Strafe zu erreichen? Der Schwager machte geltend, Hanaa sei nicht um der „Ehre“ willen getötet worden, sondern affektiv im Streit um das Familiengold, das sie für sich behalten wollte. Hier lag tatsächlich ein zweifelhafter Punkt, denn das Gold hätte Hanaa möglicherweise, so wie ihr Kind, auch nach deutschem Recht dem Clan wieder zurückgeben müssen.

Doch psychologisch gesehen war das Familiengold von der Familienehre nicht zu trennen. Das Gericht stufte denn auch in seinem Urteil die Tat  definitiv als Ehrenmord aus niederen Beweggründen ein. Hanaas Schwager wurde als Haupttäter zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht ging davon aus, dass er die Tat gemeinschaftlich mit Hanaas Sohn begangen hatte, der zum Tatzeitpunkt erst siebzehn Jahre alt gewesen war und deshalb eine Jugendstrafe von neuneinhalb Jahren Haft erhielt. Hanaas Ex-Mann und der andere Schwager wurden nur wegen Beihilfe zum Mord verurteilt, erhielten dafür aber hohe Haftstrafen von jeweils zehneinhalb Jahren. Nur die mitangeklagte Schwägerin wurde vom Vorwurf der Mordbeihilfe freigesprochen.

Die Urteilsverkündung verlief turbulent. Die Zuhörer, zum größten Teil Landsleute oder Glaubensgenossen der Angeklagten, taten lautstark ihren Unmut kund. Andere begrüßten das Urteil vehement. Es kam zu temperamentvollen Szenen; eine Frau, die nicht zu bremsen war, wurde gleich an Ort und Stelle vom Gericht zu fünf Tagen Haft verurteilt. Auch draußen auf der Straße ging der Aufruhr weiter. Ein Polizeieinsatz musste ausgelöst werden. Es dauerte lange, bis sich die Gemüter wieder halbwegs beruhigt hatten.

 

Heute zählt die Tötung Hanaas neben derjenigen der Berliner Türkin Hatun Sürücü im Jahre 2005 zu den spektakulären, gleichsam beispielhaften Ehrenmorden Deutschlands. Der Begriff des Ehrenmordes ist umstritten, da zumeist mit kriminellem Handeln in Migrantenfamilien verbunden; es steht zu befürchten, dass unsere übereifrigen SprachwächterInnen ihn demnächst als rassistisch brandmarken und unter ihre Pfuiworte aufnehmen werden. Doch Worte wie „Beziehungstat“ oder „Familiendrama“, die stattdessen vorgeschlagen werden, können nicht das wiedergeben, was in solchen Fällen tatsächlich geschieht: die Verstoßung und Ermordung nonkonformer Familienmitglieder – zu denen übrigens nicht selten auch Männer zählen – mit dem Ziel, die Familie in genau dem dominanten, geschlossenen und archaischen Zustand zu erhalten, der traditionell ihr Überleben sichert. Die starre und strenge Religion der Jesiden bildet einen idealen Nährboden für diese Art der Traditionsbewahrung. Man kann sie bestrafen, aber nicht verändern - sie sitzt in den Köpfen der Menschen fest. Bleibt nur zu hoffen, dass die Zukunft in einer globalisierten Welt ihre Rigidität allmählich aufweicht und Raum für eine tolerante Weltsicht schafft.