Ein Möchtegern-Dichter, der unentwegt schreibt, obwohl die schnöde Welt sein Genie verkennt; ein junges Mädchen, das sich in eine eksstatische Liebesromanze steigert, obwohl ihr der Angebetete fern bleibt; und ein kinosüchtiger Prominentensohn, der sich der Sphäre seines Vaters verweigert, obwohl er ihr nichts entgegensetzen kann – das sind die drei Helden der Erzählungstrilogie 'Fern von Cannes'. Aus einer Umgebung, die sie als verlogen und kleinkariert empfinden, flüchten sie in unrealisierbare Träume von Erfolg und Glück und manövrieren sich in Außenseiterpositionen, die sie mehr und mehr dem echten Leben entfremden. 'Fern von Cannes' erschien 1985 in Ostberlin und hatte DDR-Befindlichkeiten zum Thema. Doch an dem Frust junger Menschen über eine triste und kritikwürdige Realität und an der Tendenz zur Flucht in irreale Welten hat sich bis heute nichts geändert. (Klappentext)

Es handelte sich also um drei Erzählungen, die nicht inhaltlich, aber thematisch zusammenhängen, die einander ergänzen und konterkarieren. (Ich hatte immer eine Schwäche für Trilogien.)

 

Natürlich waren sie autobiografisch gefärbt, und natürlich waren sie mit Wut im Bauch geschrieben, vermutlich normal bei einer Anfängerin. Ein Autor, der schreibt, obwohl ihn kein Mensch druckt, ein junges Mädchen, das platonisch und vergeblich liebt, ein Sohn, der mit dem Elternhaus abrechnet - autobiografischer geht es nicht.

Um 1979 herum suchte ich mir aus dem Telefonbuch die Nummer der Autorin Charlotte Worgitzky heraus. Ich hatte einen Erzählungsband von ihr gelesen, der mir gut gefallen hatte, und so rief ich sie an, um ihr zitternd und bebend die große Frage vorzulegen, ob sie meine Geschichten einmal lesen würde.

Prompt und freundlich sagte Frau Worgitzky zu, und ein paar Wochen später kam durch ihre Vermittlung ein Kontakt mit dem Buchverlag Der Morgen zustande. Dieser Verlag, heute völlig vergessen, genoss in der DDR-Buchszene ein außerordentliches Renommee, nicht allein der literarischen Qualität seiner Autoren wegen, sondern vor allem aufgrund des Rufes, politisch aufmüpfige Texte zu drucken. Man denke sich meinen Stolz und meine überströmende Dankbarkeit, als dieser edle Verlag geruhte, mich in Gnaden unter seine Hausautoren aufzunehmen und mir ein Debüt in Aussicht zu stellen.

Tanja Stern Fern von CannesDoch so schwungvoll die Zusammenarbeit begann, so zäh kam sie in der Folge vom Fleck. In der DDR war eine Buchedition grundsätzlich eine ungeheuer umständliche Angelegenheit, und in meinem Fall wurde sie durch verschiedene Faktoren noch zusätzlich erschwert – durch meine Unerfahrenheit zum Beispiel, die mich in jedes Messer laufen ließ. Mein armer Text wurde zum Gegenstand endloser Lektoratsdebatten und immer neuer Überarbeitungen. Als es 1985 endlich erschien, hatte ich daran keine Freude mehr. Mein Enthusiasmus war restlos verbraucht. Ich hatte mir von diesem Projekt eine Art Durchbruch als Autorin versprochen und dafür Kompromisse hingenommen, für die ich mich heute schämen muss. Doch all der Aufwand blieb ohne Belohnung. Das Buch war erfolglos (nicht bei der Presse, aber, viel wichtiger, beim Verkauf), und der Verlag ließ sich trotz mehrerer Anläufe auf weitere Projekte mit mir nicht mehr ein.

Viel später, als ich meine Texte im Selfpublishing herausgab, nahm ich mir vor, der Vollständigkeit halber die Erzählungstrilogie, die ja immerhin mein literarisches Debüt war, in ebook-Form herauszugeben und damit in die digitale Welt hinüberzuretten. Doch als ich in Vorbereitung der Edition die drei Geschichten nach Jahrzehnten wieder las und kritisch prüfte, bewegten mich ambivalente Gefühle. Es war nicht so, dass ich schockiert und beschämt reagiert oder dass ich mich innerlich abgewandt hätte, wie man es oft von reifen Autoren hört, die sich mit ihren „Jugendsünden“ konfrontiert sehen. Nein, ich hielt meine Geschichten noch immer für halbwegs vorzeigbar und rückte nicht von dem Vorsatz ab, sie als ebook erneut ans Licht der Welt zu befördern. Die Korrekturen, die ich vornahm, waren so minimal, dass man sie kaum als Überarbeitung bezeichnen kann. 

Und dennoch fand ich die Texte gealtert, fand sie gewissermaßen getrocknet und geschrumpft, sowohl von der Form her (wie befremdlich wirkt heute der DDR-Stil der 1980er Jahre!) als auch vor allem in ihrer Bedeutung. Einst hatte ich in dem Wahn geschwebt, damit etwas höchst Kritisches, Entlarvendes und Revolutionäres zu verfassen. Ich hatte um jede Zeile gerungen, hatte endlose Debatten und erniedrigende Kompromisse in Kauf genommen, weil ich überzeugt gewesen war, der DDR-Gesellschaft mit diesen Erzählungen etwas ungemein Wichtiges vermitteln zu können. So war ich aufgewachsen, in einer Welt, die dem geschriebenen Wort eine rasante gesellschaftliche Sprengkraft beimaß; denn was immer man der DDR vorwerfen mag, sie hatte vor der Literatur einen Respekt, wie man ihn heutzutage vergeblich sucht, den Respekt der Diktatur vor der fremden Macht des Geistes.

Nun, „Fern von Cannes“ hat seinerzeit selbst in der DDR kaum Aufsehen erregt, und wenn ich den Band jetzt wieder lese, kann ich nur staunen, dass all das Kämpfen und Barmen, all die wilden Diskussionen und schlaflosen Nächte in diese ruhig kühle, rein literarische Bestandsaufnahme gemündet sind – dass ein paar Jahrzehnte reichen, um einem Buch die Intention und das Herzblut zu entziehen, mit denen es ursprünglich geschrieben wurde. "Fern von Cannes" ist nichts als ein gewöhnlicher, solider, etwas altmodischer Text, und ich kann froh sein, wenn darin wenigstens eine gewisse atmosphärische Befindlichkeit geblieben ist, die die DDR überdauert hat.