Justizirrtum sozial erwünscht
Die Auswahl der drei hier behandelten Rechtsfälle wurde vorgegeben von einer Maischberger-Talkshow, die das Thema Ideologische Justiz behandelte – natürlich nicht unter dieser Bezeichnung und natürlich auch nicht im Klartext; doch der mit deutschen Rechtsverhältnissen vertraute Zuschauer konnte erraten, wovon hier die Rede war. Sklavensprache nannten wir dieses Verfahren damals in der DDR: Was man eigentlich sagen will, ist tabu, also findet man eine diskrete Umschreibung, um es indirekt doch zu thematisieren. So manches heiße Eisen aus der Zeit des unfehlbaren Sozialismus wurde auf diese Weise in die DDR-Medien hineingeschmuggelt.
Unter dem Titel „Tatort Gerichtssaal – wie unberechenbar ist unsere Justiz?“ griff Sandra Maischberger in ihrer Sendung vom 15. Mai 2015 drei damals aktuelle Strafrechtsfälle auf, in denen fragwürdige Urteile gesprochen worden waren, und stellte sie zur Diskussion. Der erste war der Fall Frederike von Möhlmann, ein Mädchenmord aus dem fernen Jahre 1981. Frederikes Mörder, ein kurdischer Türke, war damals zu lebenslanger Haft verurteilt, in zweiter Instanz aber freigesprochen worden. Jahrzehnte später stellte sich durch eine DNA-Analyse heraus, dass er doch der Täter gewesen war; nur konnte er aufgrund seines Freispruchs nach dem Rechtsgrundsatz „Ne bis in idem“ (Nicht zweimal in derselben Sache) dafür nicht mehr juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Zum Zeitpunkt der Maischberger-Talkshow hatte das Ergebnis der DNA-Analyse noch den Reiz einer frischen Sensation, und sowohl Hans von Möhlmann, der Vater des Opfers, als auch dessen Anwalt Wolfram Schädler waren eingeladen, sich dazu zu äußern.
Der zweite Fall war der sogenannte 20-Cent-Mord, der sich am 12. Juni 2009 in der Fußgängerpassage des Bahnhofs Hamburg-Harburg ereignet hatte. Dort geriet der Dachdecker Thomas H. mit einer türkischen Jugendgang aneinander, dessen Anführer ihn um 20 Cent für die Toilette anschnorrte. Als Thomas H. ablehnte, wurde er von der Bande niedergeschlagen und getreten. Er überlebte die Attacke nicht. Doch da die Tat unter das Jugendstrafrecht fiel, bekamen die Schläger nur Bewährung und verließen den Gerichtssaal als freie Männer. Die Eltern von Thomas H., gleichfalls Teilnehmer an der Maischberger-Talkshow, zeigten sich von dem Urteil wenig erbaut. Doch der Täteranwalt Siegfried Schäfer, über Video zugeschaltet, war sehr stolz, dass er es herausgeschlagen hatte.
Der dritte Fall war der Doppelmord von Babenhausen, bei dem ein Ehepaar den Tod fand, während dessen geistig behinderte Tochter schwer verletzt überlebte. Als Täter angeklagt wurde Andreas Darsow, der Reihenhausnachbar der Opferfamilie, der sich durch den permanenten Lärm derselben belästigt gefühlt haben sollte. Ein dürftiges Motiv, und die Beweislage sah nicht minder dürftig aus; doch unter Missachtung des Rechtsgrundsatzes „In dubio pro reo“ (Im Zweifel für den Angeklagten) wurde Andreas Darsow 2011 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, die er noch heute (Stand 2025) absitzt, ungeachtet aller Revisionsbemühungen, die es im Laufe der Jahre gegeben hat. Seine Frau Anja Darsow berichtete in der Maischberger-Talkshow, dass sich eine regelrechte kleine Bürgerbewegung gegründet hatte, um die Freiheit für ihren Mann zu erwirken – leider bisher ohne Erfolg.
Dieser letzte Fall hat auf den ersten Blick gar nichts mit der Problematik der ideologischen Justiz zu tun, die das Thema des vorliegenden Buches ist. Die Klammer liegt in dem krassen Kontrast zu den anderen beiden Fällen: Hier wurde trotz fragwürdiger Beweislage ein Mann verurteilt, der nicht den Schutz der politischen Korrektheit beanspruchen konnte, während anders sozialisierte Verdächtige vorschnell ausgemustert wurden. Wie solche Mechanismen greifen, wie sie bewusst oder unbewusst die Urteile unserer Justiz bestimmen, will dieses Buchprojekt untersuchen.
Ergänzt wird es durch informative Aufsätze zu verwandten Themen und Rechtsfällen, die schon jetzt hier zu lesen sind.