Zeitgeist
Ein Schlagersänger, zuvor bestenfalls den Lesern der Klatschpresse bekannt, wird über Nacht zum Superstar: nicht mit seinem Gesang, sondern mit einem selbstaufgenommenen Video, in dem er die erschütternde Geschichte einer antisemitischen Beleidigung erzählt.
Trotzköpfchen ärgert sich im Hotel: Zum Einchecken in der Warteschlange anstehend, nimmt er wahr, dass ein Hotelangestellter zwei andere Gäste, die nach ihm kamen, außer der Reihe vorgehen lässt. Trotzköpfchen macht dem Mann eine Szene: Warum werden die vorgelassen und er steht sich hier die Beine in den Bauch? Der Hotelangestellte versucht zu erklären: Diese Gäste sind bereits eingecheckt, die wollten nur schnell ihre Schlüssel holen. Trotzköpfchen insistiert, stampft mit dem Fuß auf, schreit den Angestellten an, das sei unerhört, er werde diesen Skandal in die sozialen Medien bringen, jawohl, auf die sozialen Medien versteht sich unser Trotzköpfchen! Am Ende reicht es dem Hotelangestellten. Er beruft sich auf das Hausrecht und weist dem Krakeeler kurzerhand die Tür.
Schweden hat sich in den letzten zwei Jahren von der Lockdown-Hysterie der Welt nicht beeindrucken lassen. Heute ist das Land fast coronafrei. Was genau haben die Schweden richtig gemacht?
Als im Frühjahr 2020 die Nachricht vom „schwedischen Corona-Sonderweg“ um die Welt ging, gab es allenthalben Kopfschütteln und abschätzige Kommentare. Kein Lockdown, keine Maskenpflicht und kaum Beschränkungen im öffentlichen Leben? Die mussten verrückt sein, diese Schweden.
Es war eine Zweizeilenannonce in der Zeitung: Schreibkraft für die Wochenenden gesucht. Ich meldete mich und bekam den Job, ohne Prüfung oder Vorstellungsgespräch, da ich die einzige Bewerberin war. Gleich am folgenden Sonntag marschierte ich zur angegebenen Adresse, einem düsteren Altbau im Prenzelberg.
Schloss Zeesen bei Königs Wusterhausen ist verfallen und heruntergekommen. Man sieht dem unscheinbaren Bau nicht an, dass er auf eine bedeutende Geschichte zurückblickt.
Das Haus heißt „Schloss Zeesen“, doch das Wort Schloss erscheint ein bisschen hochgegriffen. Eher wirkt es wie ein Brandenburger Gutshaus, fast klobig kompakt und im Fassadenstil von schmucklos bescheidener Sachlichkeit. Man sieht ihm nicht an, dass es im barockverspielten 17. Jahrhundert entstand. Aber was für eine Lage: direkt am Ufer des Zeesener Sees und umschlossen von einem weitläufigen Park, dessen uralte Bäume aussehen wie verwunschen.
Eine Rehakur im Schwarzwald bei herrlichstem Wetter - was kann da schiefgehen? Und doch, diesmal ist alles anders. Liegt es wirklich nur an Corona?
Ich hatte um diese Reha gekämpft, ich hatte mich darauf gefreut. Schon immer war ich gern zur Kur gefahren: Drei Wochen lebt man nur für seinen Körper, man ernährt sich gesund, treibt regelmäßig Sport, geht in der Regel mit den Hühnern schlafen. Meist verzeichnet man auch therapeutische Erfolge oder bekommt zumindest Anregungen, etwas auszuprobieren oder anders zu machen, um das eigene Wohlbefinden zu verbessern; und ganz nebenbei lernt man auch noch eine schöne, bislang unbekannte Gegend kennen.
Die Gegend ist auch diesmal schön: ein Weinanbaugebiet im Badischen, Rebstöcke, soweit das Auge reicht, an den malerischen Berghängen des Schwarzwalds. Und das Wetter meint es gut – eine leuchtende Septembersonne treibt die Temperaturen bis über 30 Grad. Und trotzdem: Gleich der erste Tag bringt Frust und Ernüchterung – warum?
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Haben Migranten einen Bonus bei deutschen Behörden und Gerichten? Allein die Frage ist verpönt und rückt den Frager in Pegida-Nähe. Doch wer je mit einem Migranten aneinandergeriet, beginnt die Dinge anders zu sehen.
Es gab eine Zeit, da hatten Frauen einen Bonus, wenn sie bei Behörden und Gerichten gegen Männer vorgehen wollten. Die Mutter, die das alleinige Sorgerecht für ihre Kinder verlangte, die geschiedene Frau, die sich mehr Unterhalt wünschte, die verlassene Freundin, die ihren Ex der Vergewaltigung beschuldigte, sie alle hatten gute Chancen, gegen die Männer Recht zu bekommen.
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Ostalgie, das war in den 1990er Jahren eine spaßige Modewelle. Heute aber wird die Ex-DDR allen Ernstes verklärt und mit einem späten Glorienschein umwoben. In den Augen der Ostalgiker war sie eine heile, übersichtliche Welt, in der es noch soziale Sicherheit, menschliche Wärme und Solidarität gab. Wie ist dieses Phänomen zu erklären?
Ostalgie? Aber das war doch ein Phänomen der frühen 1990er Jahre. Das müsste sich doch längst erledigt haben, nicht nur als abgeebbte Modewelle, sondern auch auf quasi biologischem Weg?
Nein, eben nicht. Im Gegenteil: Je mehr das Bild der DDR in der Vergangenheit verschwimmt, desto schöner, verklärter und entrückter erscheint es in der Erinnerung ihrer ehemaligen Bewohner.
Weiterlesen: DDR im Glorienschein - das heimliche Phänomen der Ostalgie
Mit der "Alexanderplatz-Demo" am 4. November 1989 zeigte das DDR-Volk erstmals Flagge: Hunderttausende bekannten lautstark, dass sie das SED-Regime nicht mehr wollten.
Im Oktober 1989 schien in Ostberlin förmlich die Luft zu vibrieren. Jeder Tag brachte neue Sensationen: Hier sah sich ein vor Kurzem noch allmächtiger Bonze über Nacht aus dem Amt katapultiert, dort wurde ein Politskandal enthüllt, Parteien und Vereine aller Couleur schossen wie Pilze aus dem Boden und erhoben Forderungen, immer neue, immer stürmischere Forderungen, angemahnt mit einer Dringlichkeit, als könnte es morgen schon zu spät sein. Wir dürfen jetzt nicht nachlassen! Das war der Satz, den man in den fiebrigen Debatten jener Tage am häufigsten zu hören bekam. Die dürfen das nicht schaffen, dass es wieder „so wie früher“ wird.
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In der Adventszeit 2011 und 2012 schickte die "Zeit" Maria und Josef durch das gegenwärtige Deutschland. Ein Reporter und eine Schauspielerin baten als obdachloses Paar um Hilfe - einmal im Taunus, wo die Reichen wohnen, und einmal im Berliner Problembezirk Neukölln.
In der Adventszeit 2011 unternahm ein Redakteur der „Zeit“ zusammen mit einer Schauspielerin ein eindrucksvolles soziales Experiment: Als obdachloses Paar verkleidet durchwanderten die beiden die idyllischen kleinen Orte im Taunus, wo die reichsten Bürger Deutschlands leben, und baten um Hilfe in ihrer Not.
Weiterlesen: Maria und Josef mitten in Deutschland - die etwas andere Weihnachtsgeschichte
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Sie waren beide Störenfriede, Wolf Biermann im Osten, Wolfgang Neuss im Westen. 1965 kam es zu einem gemeinsamen Konzert in Frankfurt, dessen Mitschnitt Kultstatus erlangte - lange bevor Wolf Biermanns Ausbürgerung aus der DDR das SED-System erschütterte und lange bevor Wolfgang Neuss in der Drogensucht versank.
Der eine war Kommunist, der andere skeptischer Sozialdemokrat. Der eine schrieb poetische Lieder, der andere bissige Kabarettsketche. Doch eines hatten sie gemein: Sie waren in den 1960er Jahren die großen Störenfriede der Gesellschaft, Wolf Biermann im Osten, Wolfgang Neuss im Westen. Als sie 1965 in Frankfurt aufeinandertrafen, hatten sie beide schon mit Fleiß dieses Störenfried-Image kultiviert und sich damit einen Namen gemacht.
Weiterlesen: Biermann und Neuss - zwei deutsche Störenfriede