Dunkle Hintergründe
Der Vorteil dieser Verurteilung wie auch der Täterwahl lag darin, dass man den Hintergrund des Mordopfers nicht in die Ermittlungen einbeziehen musste. Das aber hätte sich gelohnt, denn Otto Praun war alles andere als ein gewöhnlicher Gynäkologe gewesen. Er stammte aus einer Familie, die auf das Engste mit den deutschen Geheimdiensten sowohl des Dritten Reiches als auch der Nachkriegszeit verbunden war. Im BND-Archiv fanden Reporter später eine Aktennotiz, in der Praun unverblümt als Spion und Waffenhändler bezeichnet wurde – eine Aussage, die im Laufe der Jahre immer wieder durch Zeugen erhärtet wurde. Wie es heißt, soll er sich mit größter Routine in der internationalen Waffenschieberszene bewegt und Verbindungen zu höchsten politischen Kreisen unterhalten haben. Ob Angola, Portugal oder Korea, wo immer auf der Welt ein Kriegsherd entflammte, gehörte er zu denen, die dafür sorgten, dass es den Kämpfern nicht an Waffen fehlte.
Überdies handelte er in großem Stil mit Immobilien und stand in dem Ruf, die Frauenarztpraxis, die er in der Münchner Lindwurmstraße führte, für illegale Abtreibungen zu nutzen. Ein Bericht bezeichnet ihn unumwunden als den „Abtreibungsarzt der Münchner Schickeria“. Schon zweimal war in diesem Kontext gegen Praun ermittelt worden, beide Male ohne Erfolg. Auf jeden Fall verfügte er über ein Vermögen, das als Kassenarzt kaum zu verdienen war. Die millionenschwere, nahe dem Starnberger See gelegene Villa in Pöcking, die der Schauplatz seiner Ermordung war, und jene Finca an der Costa Blanca, die Vera Brühne zum Verhängnis wurde, bildeten nur einen Teil davon.
Von daher sind natürlich gleich mehrere Mordmotive vorstellbar. Besonders Prauns Status als Waffenhändler und seine Beziehungen zum Geheimdienst hätten unbefangenen Ermittlern ergiebige Ansätze bieten können. Doch es sieht nicht so aus, als wären die Ermittler im Mordfall Praun je unbefangen gewesen. Was sie als Tathergang präsentierten, mutet so primitiv und hergeholt an, als wäre es nicht der Wirklichkeit, sondern einem drittklassigen Krimi entsprungen. Der Verdacht lag nahe, dass hier etwas "nicht stimmte", dass man vom wahren Täter ablenken wollte, um einen Skandal auf höchster politischer Ebene zu vermeiden.
Nun gab es damals noch ein Nachbarland, dem Skandale aus dem Westen sehr willkommen waren: Die DDR, die gerade, wenn auch wenig erfolgreich, am Aufbau des Sozialismus laborierte, stürzte sich dankbar auf alle Missstände des verrottenden kapitalistischen Systems, und der Fall Brühne-Ferbach war glänzend geeignet, die Intriganz und Heuchelei der bundesdeutschen Klassenjustiz zu entlarven. Der damals sehr populäre Krimiautor Günter Prodöhl nahm den Fall in seine Reihe „Kriminalfälle ohne Beispiel“ auf, in der er anhand ausgewählter Justizfälle aus der kapitalistischen Welt die Gewalt und das Unrecht der Klassengesellschaft voll moralischer Empörung anprangerte – nach dem Motto „Es lebe der Sozialismus, wo solche Schweinereien nicht mehr vorkommen“. So habe ich als junges Mädchen den Fall Brühne-Ferbach kennengelernt, denn ich war eine eifrige Leserin der „Kriminalfälle ohne Beispiel“ und ließ keinen der Bände aus.
Prodöhl geht, wie die meisten Kommentatoren, von der Unschuld der beiden Angeklagten aus, und er weiß aufgrund seines hellseherischen Klasseninstinktes auch genau, wer tatsächlich Otto Praun ermorden ließ: Es war, so kann man es in seinem Buch lesen, der amerikanische Waffenhändler Samuel Cummings, der Ende der 1950er Jahre den europäischen Waffenmarkt aufmischte und dem Praun als Konkurrent in die Quere kam. Das aber durfte nicht an den Tag kommen:
Die westdeutschen Behörden aber konnten nicht daran interessiert sein, den Mörder zu finden und die politischen Hintergründe des Mordes aufzudecken. Die Bonner Regierung unterstützt schließlich die Kolonialpolitik der Westmächte und darf nicht riskieren, durch einen öffentlichen Prozess die Bundesgenossen zu desavouieren.
Doch 1967 tauchte ein gewisser Roger Hentges auf, bekannte sich als Zeugen der Ermordung Otto Prauns und enthüllte öffentlich die beiden Täter: Der eine war seiner Aussage zufolge Werner Repenning, Referent des damaligen bayerischen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß; bei dem anderen, der den Tarnnamen „Schröder“ führte, soll es sich gleichfalls um ein hohes Tier im bayerischen Verteidigungsministerium gehandelt haben. Hentges` Enthüllungen führten zwar nicht zu neuerlichen Ermittlungen - im Gegenteil, sie trugen ihm eine Klage wegen uneidlicher Falschaussage ein -, doch in der Presse wirbelten sie viel Staub auf. Franz-Josef Strauß sah sich genötigt, an Eides statt zu erklären, er hätte mit der Mordaffäre Praun nichts zu tun.
Das Fernsehen der DDR, das damals im Rahmen der Reihe "Kriminalfälle ohne Beispiel" die Verfilmung des Falles vorbereitete, mit einer ziemlich weinerlichen Gisela May als Vera Brühne, baute all dies in seine Story ein und präsentierte nun eine ganz andere, doch nicht minder kategorisch vorgetragene Tatversion: Hier sind es keine Waffenhändler, sondern zwei höhere Offiziere des Verteidigungsministeriums – die lokale Beschränkung auf das Bundesland Bayern wird der Einfachheit halber weggelassen –, die bei einer aus dem Ruder laufenden Verhaftung erst Otto Praun und dann die herbeigeeilte Haushälterin eliminieren. Die beiden bleiben nicht die einzigen Opfer. Der bundesdeutsche Geheimdienst, hier noch als die „Gehlen-Truppe“ bezeichnet, ist nicht zimperlich und pustet einen Zeugen nach dem anderen weg, bis niemand mehr die Wahrheit aussagen kann. Natürlich sind die Geheimdienstleute bestens mit der Staatsanwaltschaft vernetzt, so dass sich mühelos ein Frameup gegen Vera Brühne und Johann Ferbach arrangieren lässt. Ermittlungen und Prozess sind eine gleichermaßen abgekartete Farce, und die von der Regierung gesteuerte Presse spielt in vorderster Reihe mit, um ideologisch den Boden für die politisch beschlossene Verurteilung der Angeklagten vorzubereiten. Alle stecken sie unter einer Decke.
Prodöhls Version erscheint uns als das andere Extrem in der Skala der Möglichkeiten, als primitives politisches Gegenstück zur ebenso primitiven Räuberpistole um die raffgierige Vera Brühne, die mit Hilfe eines ihr hörigen Komplizen ihren Liebhaber ermorden lässt, um dessen spanische Finca zu erben. Doch immerhin erklärt der Politthriller einiges, was die Räuberpistole offenlässt. Es hat tatsächlich unter den Zeugen oder potenziellen Zeugen ungeklärte Todesfälle gegeben, und die Verhandlungsführung vor Gericht wirkte so offenkundig parteiisch, dass sie den Verdacht der Absprache bestätigt. Zwar kommen abgekartete Justizfarcen und ballernde Geheimagenten mehr im Kino vor als im richtigen Leben. Aber andererseits hat das „richtige Leben“ in diesem Fall so abstrus gespielt, dass nicht nur DDR-Propagandisten, sondern auch kluge und unabhängige Geister ausnahmsweise die Neigung zeigten, an politische Verschwörungstheorien zu glauben, an die berühmten dunklen Mächte, die im Hintergrund ihre Strippen ziehen.