Schande und Totalversagen

Immer wieder sieht man sich an den entscheidenden Punkten der Geschichte vor der Wahl zwischen den beiden Enden der Skala, zwischen der rein-menschlichen und der politischen Version. Doch beide wirken gleichermaßen unglaubhaft - man möchte sie beide als gleichermaßen durchsichtig konstruiert verwerfen. Auch haben sie sich im Laufe der Jahrzehnte durch die Unmenge dessen, was über den Fall publiziert worden ist, zu einem unentwirrbaren Wust verflochten, in dem sich die Wahrheit kaum noch auffinden lässt. Kleines Beispiel: Im Zuge meiner Recherchen wollte ich beiläufig wissen, zu welcher Rasse der Hund von Otto Praun gehörte. Keine Chance – jeder neue Bericht, den ich las, schrieb sorglos eine andere Hunderasse fest. Vom Spitz bis zum Schäferhund war alles dabei. Und irgendwann stellte sich zugleich mit dem Überdruss der Gedanke ein: Ist es nicht scheißegal, was für ein Hund das war?

Dumm nur, dass dieser Gedanke, dass auch der damit verbundene Überdruss irgendwann auf die gesamte Recherche abzufärben begann. Was immer die Ermittlungs- und Justizorgane so handeln ließ, wie sie gehandelt haben, ob Dummheit, Schlamperei und Rückständigkeit, ob politisches Kalkül und Vertuschungsmanöver oder womöglich alles zusammen irgendwo in der Mitte der Skala, am Ende spielt es keine Rolle mehr. Nur so viel kann man sagen: Wenn es wirklich darum ging, etwas zu vertuschen, dann ist das gründlich danebengegangen, denn die Vertuschung erregte weit mehr Aufsehen und wirkte stärker nach als alles, was es je zu vertuschen gab. Die Waffenmauscheleien der Nachkriegsjahre – um den meistvermuteten Vertuschungsgrund zu nennen – locken heute keinen Hund mehr hinterm Ofen hervor. Doch die Justizmauscheleien im Fall Brühne-Ferbach faszinieren auch nach Jahrzehnten. Nie zuvor wurde das noble Gerede vom Rechtsstaat so krass ad absurdum geführt wie hier, nie zuvor die verlogene Maske der „richterlichen Unabhängigkeit“ so gnadenlos heruntergefetzt. An diesem Fall ist das öffentliche Vertrauen in die korrekte, unbeeinflussbare Arbeit der Justiz so drastisch zerschellt, dass es nie mehr gekittet werden konnte.

Das ist es, was von der Geschichte bleibt: der Eindruck einer nachhaltigen Schande und eines gigantischen Totalversagens der deutschen Ermittlungs- und Justizorgane. Es gab nie eine juristische Aufarbeitung oder gar Wiedergutmachung des Unrechts. Der Sohn des Mordopfers hat sich zeitlebens an der spanischen Finca erfreuen dürfen, um derentwillen er Vera Brühne denunzierte, und der Richter wie auch der Staatsanwalt, die das fragwürdige Urteil über sie verhängten, haben es später zu hohen Positionen im bayerischen Justizapparat gebracht. Selbst der Journalist Nils von der Heyde, der Vera Brühnes minderjährige Tochter zu der verhängnisvollen Aussage gegen ihre Mutter bewog, stieg dadurch auf und wurde später zum Starreporter, während der Spitzel Siegfried Schramm, der Ferbach ins Verderben riss, innnerhalb der CSU Karriere machte. Mitunter wird der Fall Brühne-Ferbach als die deutsche Dreyfus-Affäre bezeichnet, aber dieser Vergleich hinkt im wichtigsten Punkt, denn das Happy End, das es in Frankreich gegeben hat, ist in Deutschland ausgeblieben. Die mutmaßlich Bösen blieben ungestraft, die mutmaßlich Unschuldigen haben verloren – solche Geschichten tun dem Leser weh.

Mein Mitgefühl gilt Johann Ferbach, dem unauffällig-mausgrauen Mitangeklagten der glamourösen Vera Brühne. Auch sein Erscheinungsbild hängt, wie alles in diesem Fall, von der Sicht des jeweiligen Betrachters und Berichterstatters ab: An dem einen Ende der Skala ist er ein schmieriger kleinkrimineller Handlanger und Geschäftemacher, am anderen ein proletarischer Held, der von den Mächtigen zerstört wird. Nur über ein Handlungselement besteht auf allen Seiten Einigkeit: den Beginn seiner Freundschaft mit Vera Brühne. Im Herbst 1944 wurde das Münchner Haus des Schauspielers Hans Cossy, dessen Frau Vera Brühne damals war, bei einem Bombenangriff zerstört. Auch der Zugang zu der auf dem Grundstück angelegten sogenannten „Behelfsschutzanlage“, in der die Cossys Zuflucht gefunden hatten, ging verschütt und ließ sich nicht mehr öffnen. Johann Ferbach, einst Verantwortlicher für den Bau der Behelfsschutzanlage, setzte durch, dass der Zugang freigelegt wurde, und rettete so den Hausbewohnern das Leben.

Diese gute Tat trug ihm die Bekanntschaft mit Vera Brühne ein und in der Folge eine Mordanklage, eine Verurteilung zu lebenslanger Haft und einen frühen, sicherlich auch psychosomatisch bedingten Tod: Schon 1970 starb er im Gefängnis an Herzversagen, vergessen im Status eines Schwerverbrechers, nachdem auch seine Bemühungen um eine Revision des Urteils allesamt gescheitert waren.

Vera Brühne aber überlebte die Haft, und überlebte sie nicht nur physisch. Franz Josef Strauß, damals frisch gebackener bayerischer Ministerpräsident, begnadigte sie huldvoll nach achtzehn Jahren Haft. Noch im April 1979 hatte er in seiner humorigen Art schriftlich fixiert: „Die Dame muss brummen.“ Doch später im selben Jahr wurde bekannt, dass der Autor Peter Anders ein Enthüllungsbuch über den Fall Brühne-Ferbach herausbringen wollte, in dem er einen besonderen Fokus auf Prauns Waffengeschäfte legte. In all den Jahren hatten sich Gerüchte gehalten, dass enge Mitarbeiter von Franz Josef Strauß darin verwickelt gewesen waren – ja, dass er selbst weit mehr über den Mord an Praun wusste als die Dame, die er dafür brummen ließ. Jetzt bot er Peter Anders einen Deal an: Wenn dieser bereit sei, das Erscheinen des Buches um fünfzehn Jahre zu verschieben, werde er, Strauß, Vera Brühne begnadigen. Anders akzeptierte, und im Dezember 1979 durfte Vera Brühne das Gefängnis verlassen. Offiziell verbürgt ist die Episode nicht; vielleicht wurde die Begnadigung auch einfach durch den nächsten Revisionsantrag veranlasst, der drohend bevorstand und dessen Ablehnung immer schwerer zu begründen war. So oder so, einem Mann wie Strauß wäre jede Art Machtmissbrauch zuzutrauen. 

Die alte Dame lebte nach der Haftentlassung noch mehr als zwanzig Jahre unter falschem Namen in ihrer Münchner Eigentumswohnung. Schon im Gefängnis hatte sie das Malen für sich entdeckt und verbrachte viel Zeit mit diesem Hobby. Ihre Bilder verkauften sich recht gut, und überhaupt scheint sie, auf welcher Basis auch immer, auskömmlich gelebt zu haben. Sie unterhielt einen kleinen Bekanntenkreis und gab gelegentlich Interviews, in denen sie bis zuletzt mit Nachdruck ihre Unschuld beteuerte.

Während der Haftzeit hatte sie Phasen stärkster Verbitterung durchlebt, hatte sich regelrecht eingekapselt im Bewusstsein des Unrechts, das ihr widerfuhr. Immer war es ihr nur um ihre Rehabilitierung gegangen, nie um eine gönnerhafte und demütigende Begnadigung von oben, die sie ohne Haftentschädigung und ohne Wiederherstellung ihrer Ehre in eine entwertete Freiheit entließ. Dennoch schien sie in den letzten Jahren die Verbitterung völlig überwunden zu haben. Sie wirkte freundlich, gelassen und souverän. Irgendwann muss sie begriffen haben, dass die ungerechte Mordanklage zumindest langfristig das Beste war, was ihr und ihrem Image passieren konnte. Ohne diese wäre sie uns – wenn überhaupt – nur als eine Skandalnudel der 1950-er Jahre in Erinnerung geblieben. So aber ist sie zu einem Justizopfer und damit zu einer wichtigen Persönlichkeit der Zeitgeschichte aufgewachsen.

Unvergessen, wie sie nach der Urteilsverkündung, die sonst so Beherrschte und Elegante, zusammenbrach in haltloser Verzweiflung, wie sie den Kopf wieder und wieder gegen die hölzerne Brüstung schlug, wie sie unter Tränen die später vielzitierten Worte flüsterte: „Aber ich bin doch, bitte, unschuldig!“, während rings die Kameras klickten und die Richter mit undurchdringlichen Mienen auf ihr Opfer herniederblickten. Schon dieser eine Moment verklärte ihr Leid zu einer Art Buße, der sie von aller Torheit und Oberflächlichkeit ihres Schickeria-Daseins reinigte. Sie hörte auf, eine "Lebedame" zu sein, als die Justiz sie zu einer Mörderin erklärte.

Vera Brühne starb 2001 mit 91 Jahren in München, starb den üblichen Tod einer hochbetagten Frau, und dennoch ist man geneigt zu sagen: Sie trat erhobenen Hauptes ab, mit sich im Reinen in dem Bewusstsein, dass das Recht auf ihrer Seite war. Unser bürgerliches Mitgefühl hat sie nicht nötig. In dieser Geschichte, die kein Happy End kennt, hat sie sich jenseits aller juristischen und gesellschaftlichen Wertungen ihr eigenes Happy End geschaffen.