Fast zwei Jahre vergingen mit Stalking, Streitereien und Versöhnungsversuchen. Dann kam der Abend des 12. Juni 1994. Nicole traf sich mit ihrer Familie beim Lieblingsitaliener zum Abendessen. Als die Gesellschaft gegangen war, klingelte das Telefon: Nicoles Mutter hatte ihre Brille im Restaurant liegenlassen. Einer der Kellner, Ronald Goldman, erbot sich, die Brille auf dem Heimweg bei Nicole vorbeizubringen; ihr Apartment lag ganz in der Nähe.

Stunden später fand man im Eingangsbereich des Apartments die blutüberströmten Leichen von Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman. Man konnte nur mutmaßen, was passiert war: Vielleicht hatte OJ Simpson Nicole wieder einmal geschlagen, und der zufällig hinzukommende Ron Goldman wollte ihr zu Hilfe eilen. Oder es war O. J., der hinzukam, als Nicole an der Tür mit Ron Goldman sprach, und ihn für ihren Liebhaber hielt. Aus der Vielzahl der Berichte geht nicht klar hervor, ob Ron tatsächlich nur der Kellner war, der Nicole die Brille ihrer Mutter brachte, oder außerdem noch ein Verehrer, mit dem sie flirtete. Auf jeden Fall hatten die beiden gegen den athletischen Simpson keine Chance. Einmal mehr muss ihn jene enthemmte Raserei befallen haben, über die er keine Kontrolle hatte. Immer wieder stach er mit dem Messer auf seine beiden Opfer ein. Insbesondere der Leichnam Nicoles war auf das Übelste zugerichtet; unter anderem wies er einen Kehlschnitt von solcher Breite und Tiefe auf, dass fast eine Enthauptung herbeigeführt wurde.

Als man OJ verhaften wollte, kam es zu einer Reality Show, wie sie das Land noch nicht gesehen hatte: OJ floh zusammen mit einem Freund in einem weißen Ford Bronco über den Highway, verfolgt von mehreren Polizeiwagen – und von Millionen Fernsehzuschauern, die das Spektakel live auf ihren Bildschirmen sahen. Welch ein Volksfest für die stets nach Sensationen dürstende Seele Amerikas! Die Leute standen am Straßenrand und winkten, viele schwenkten Fähnchen oder hielten selbstgemalte Schilder hoch, um ihren Helden anzufeuern. Die Einschaltquoten übertrafen selbst noch diejenigen, die OJ bei seinen größten Football-Kämpfen erreichte. Bis heute gilt die skurrile Verfolgungsjagd als ein Großereignis in der amerikanischen Fernsehgeschichte.

Am Ende wurde OJ Simpson gefasst und vor Gericht gestellt. Dort spielte dann die nächste Folge der OJ Simpson Reality Show, und sie übertraf in ihrer Absurdität alles, was sich selbst der erfindungsreichste Hollywood-Autor hätte ausdenken können. Die Indizien und Beweise waren so erdrückend, dass ein „normaler“ Angeklagter nicht die geringste Chance gehabt hätte, einen Freispruch zu erreichen. OJ Simpson indessen kaufte gleich ein ganzes Team von prominenten Anwälten ein, und sein Geld erwies sich als gut investiert, denn der gebündelten Kraft der Rechtsverdreher gelang es tatsächlich, ihn vom Haken zu holen.

Es war in erster Linie die Rassismus-Problematik, die ihren Erfolg ermöglichte. Erst kurz zuvor war der Schwarze Rodney King von weißen Polizisten brutal misshandelt und getötet worden, was nicht nur zu Rassenunruhen führte, sondern auch zu einer hochexplosiven Stimmung innerhalb der Gesellschaft, wo fortan Rassismusvorwürfe überall und ständig in der Luft lagen. Davon profitierte die Verteidigung – Rodney Kings Uhl war Simpsons Nachtigall. Zwar hatte er vordergründig niemals Wert auf seine Hautfarbe gelegt – gern zitiert man ihn mit dem bezeichnenden Satz: „Ich bin nicht schwarz, ich bin O. J.“, – doch jetzt wurde er von seinen Anwälten zum diffamierten Schwarzen aufgebaut, dem weiße Ermittler einen Strick drehen wollten. Es waren zum Teil personell dieselben Ermittler, die OJ jahrelang geschmiert hatte, damit sie über seine Prügelattacken gegen Nicole hinwegsahen; aber jetzt stilisierte man sie allesamt zu Teilnehmern einer Polizeiverschwörung und erklärte sämtliche forensischen Indizien in Bausch und Bogen für gefakt und gefälscht. Einer der Ermittler, der Polizist Mark Fuhrman, der tatsächlich rassistische Ansichten vertrat, wurde so existenzvernichtend demontiert, dass er selbst auf der Anklagebank landete. Die Jurymitglieder waren fast ausschließlich Schwarze; einer hob offen die Faust zum Black-Panther-Gruß, als er nach dem Freispruch Simpsons den Gerichtssaal verließ – seht her, die Rache für Rodney King!

150 Millionen Amerikaner – nahezu die Hälfte der Nation, was einen neuen Einschaltrekord markierte – schauten zu, als die Jury bei der live übertragenen Urteilsverkündung OJ Simpson des Mordes für nicht schuldig befand. Später sprach man ihm auch noch das Sorgerecht für seine beiden Kinder aus der Ehe mit Nicole Brown Simpson zu, was selbst dann nicht zurückgenommen wurde, als das Zivilgericht ihn für schuldig erklärte. Die Kinder wuchsen bei dem Mörder ihrer Mutter auf.

Innerhalb der schwarzen Bevölkerung herrschte lauter Jubel über den Freispruch. Dass hier ein Schwarzer, der zwei Weiße umgebracht hatte, spektakulär davongekommen war, galt als ein triumphaler Sieg im Kampf gegen die Rassendiskriminierung. Aber wer sich, ob schwarz oder weiß, zwischen Showrummel und Rassismushysterie noch ein Gefühl für den ursprünglichen Sinn der Rechtsprechung bewahrt hatte, der sah in diesem Freispruch eine ewige Schande für die amerikanische Justiz und einen Tiefpunkt in der Rechtsgeschichte des Landes. Insbesondere auf uns Europäer wirkt der Simpson-Prozess wie ein Katalysator, der all das in ein grelles Licht rückt, was uns an Amerika abstößt: die unverfrorene Macht des Geldes, mit dem der Reiche sich das Recht genauso kaufen kann wie einen flotten Schlitten; die fatale Rolle der Massenmedien, die jedes Ereignis als Show ausschlachten und damit als Realität völlig verzerren und entwerten; vor allem aber die verheerenden Auswirkungen der politischen Korrektheit, der ideologisch hochgespielten Parteinahme für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, die der Tod alles natürlichen Gerechtigkeitsempfindens ist. Wehe uns, wenn auch in Deutschland die politische Korrektheit den Siegeszug vollendet, auf dem sie schon jetzt gefährlich weit vorangeschritten ist!

Doch die amerikanische Justiz hat aus dem Schandurteil gelernt und wie zur Selbstheilung verschiedene Maßnahmen ergriffen, um es zu kompensieren und wiedergutzumachen. Die Gesetze zur Bestrafung häuslicher Gewalt wurden nach dem Simpson-Prozess verschärft, und ihre Einhaltung wurde strenger überwacht. Keine Frau sollte mehr ihrem Haustyrannen so schutzlos ausgeliefert sein wie Nicole Brown Simpson. Vor allem aber trat in dieser Phase überraschend das Zivilrecht in Aktion und übernahm es, in dem begrenzten Rahmen, der ihm zur Verfügung stand, einen gewissen Ausgleich für das geschehene Unrecht herbeizuführen.

Auch in den Vereinigten Staaten war es äußerst ungewöhnlich, dass auf den Freispruch in einem Strafprozess eine Zivilklage in derselben Sache folgte. Doch das Rechtssystem bot diese Möglichkeit durchaus, denn das Zivilgericht war an den Freispruch in der Strafsache nicht gebunden. Die Familien der beiden Opfer fanden einen exzellenten Zivilrechtsanwalt und klagten mit ihm auf die Feststellung, dass kein anderer als OJ Simpson ihre Angehörigen ermordet hatte, sowie auf Entschädigung für den ihnen dadurch entstandenen Schmerz und Verlust.

Auch vor dem Zivilgericht gab es eine Jury, doch diesmal bestand sie überwiegend aus Weißen. Und der Richter erklärte von Anfang an das Thema Rassismus für tabu und verhinderte konsequent, dass entsprechende Verschwörungstheorien die Wahrheitsfindung verfälschen konnten. Nachdem sich die Verteidigung dergestalt auf die objektiven Fakten und Beweise zurückgeworfen sah, gingen ihr schon bald die Argumente aus. Am meisten aber schadete OJ sich selbst: Als Zeuge im Gerichtssaal aufgerufen, wurde er vom Klägeranwalt gnadenlos vorgeführt und demaskiert in seiner ganzen selbstherrlichen Arroganz.

Die Jury erklärte OJ Simpson einstimmig des Doppelmordes für schuldig und verurteilte ihn zur Zahlung einer Entschädigung von insgesamt 33,5 Millionen Dollar. Es war ein großer Erfolg für die Klägerfamilien, juristisch und vor allem moralisch, doch in praxi wurde er zum Misserfolg, denn OJ Simpson dachte gar nicht daran, auch nur eine seiner sauer verdienten Millionen an die Klägerfamilien zu zahlen. Das Gericht hatte keinerlei Auflagen für den Fall der Nichtzahlung verhängt; und so zog OJ Simpson seelenruhig in das sonnige Florida um, wo Immobilien und Renten nicht gepfändet werden konnten. Er legte sein Geld entsprechend an und führte weiterhin das Luxusleben, das er gewohnt war. Bis heute (Stand 2024) hat er keinen nennenswerten Betrag an die Familien seiner Opfer gezahlt.