Stattdessen schockte er 2006 die Welt mit einer neuen Sensation: einem autobiografischen Buch, in dem er seine Morde thematisierte. Es trug den Titel „If I Did it“ (Wenn ich es getan hätte) und berichtete die Geschehnisse in dem hier schon anklingenden Konjunktiv, als eine Art Fiktion oder Möglichkeit, wie sie sich abgespielt haben könnten. Dadurch vermied der Autor ein direktes Geständnis, schaffte sich zugleich aber die Möglichkeit, seine Taten offen darzustellen, ja geradezu mit ihnen zu prahlen; denn es hat ganz den Anschein, als ob die beiden so überaus publicityträchtigen Morde und vor allem der Umstand, dass sie straffrei blieben, OJ regelrecht mit Stolz erfüllten und die Überzeugung von seiner Ausnahmestellung in ihm festigten. Er ist der klassische Träger des Gottkomplexes – seiner Natur liegt Selbstkritik so fern, dass Gewissen, Zweifel oder Reue nicht einmal im Ansatz aufkommen können.
Die Lektüre von „If I Did it“ hat die meisten Leser, erstmals oder endgültig, von OJ Simpsons Schuld überzeugt. Auch ein Fernsehinterview, das im Vorfeld der Buchedition entstand, gilt allgemein als verkapptes Geständnis. Hier wie dort schilderte er, nicht direkt, aber mit unverkennbarer Deutlichkeit, wie er seiner Exfrau auflauerte, wie es zur Auseinandersetzung zwischen ihm, Nicole und Ron Goldman kam – und dann folgte seiner Darstellung nach ein Filmriss, ein völliges Blackout der Erinnerung. Als er wieder zu sich gekommen sei, hätte er ein Messer in der Hand gehalten und alles ringsum voller Blut gefunden. Doch das sei natürlich nur ein hypothetisches Gedankenspiel und in Wirklichkeit nie passiert.
Das Geständnis klingt überzeugend, sogar der Teil mit dem Blackout. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass OJ sich in einen Zustand weißglühender Rage hineinsteigerte. Dann aber hätte er an jenem Abend nicht „beschlossen“, Nicole umzubringen, wie die Anklage ihm vorwarf, sondern sie und das Zufallsopfer Ron Goldman im Affekt getötet – nein, nicht im Affekt, in einer Art Blutrausch, der außerhalb seines Bewusstseins lag. Das würde auch erklären, warum er selber sich trotz allem für unschuldig hält. Aber derartige Erwägungen, aus heutiger Sicht eigentlich naheliegend, haben in beiden Prozessen keine Rolle gespielt, so wie auch meines Wissens nie jemand die psychische Befindlichkeit OJ Simpsons näher untersucht hat. Womöglich ist der Mann sogar zu bedauern: Er hätte als Legende und Idol der Nation, als Verkörperung des amerikanischen Traums in die Geschichte eingehen können. Stattdessen symbolisiert er jetzt nur noch den amerikanischen Alptraum der Überhebung und Selbstzerstörung. Doch es fällt schwer, für jemanden Mitleid zu fühlen, der so selbstherrlich aus jedem Foto grinst.
Die Ankündigung von OJ Simpsons Buch löste zwar millionenfache Vorbestellungen, aber andererseits auch einen wahren Wirbelsturm der Empörung aus. Dass hier ein Mann aus einem Verbrechen, für das er nicht einmal bestraft worden war, nun obendrein noch Kapital schlug, wurde als dreister Zynismus und als Verhöhnung der Opferfamilien empfunden. Allein der Vorschuss, den OJ Simpson von seinem Verlag HarperCollins erhielt, soll mindestens eine Million Dollar, nach anderen Quellen sogar mehr betragen haben, zahlbar auf ein zugriffssicheres Treuhänderkonto. Ron Goldmans Vater rief zum Boykott des Buches auf und startete eine Gegenkampagne, um dessen Erscheinen zu verhindern. So vehement und so zahlreich waren die Proteste, dass HarperCollins sich genötigt sah, den Druck zu stoppen und den Titel aus dem Verlagsprogramm zurückzuziehen. Die zuständige Herausgeberin Judith Regan wurde gefeuert. Der Medienmogul Rupert Murdoch, dem der Verlag HarperCollins gehörte, sprach eine persönliche Entschuldigung aus: Das Verlagsprojekt sei eine „geschmacklose Fehlentscheidung“ gewesen.
Die Opferfamilien, die ja noch immer ihre 33,5 Millionen Dollar Entschädigung vermissten, sicherten sich auf anwaltlichen Rat die Rechte an OJ Simpsons Buch und brachten es in einer überarbeiteten und kommentierten Fassung heraus. Der neue Titel lautet „If I Did it – Confessions of a Killer“ (Wenn ich es getan hätte – Geständnisse eines Mörders), und sämtliche Erlöse daraus fließen den Familien Goldman und Brown zu, die es in einer Stiftung angelegt haben.
Es ist tröstlich, dass OJ Simpson später doch noch im Gefängnis landete. Sein Drang, Probleme mit Gewalt zu lösen, ließ sich ebenso wenig bändigen wie sein größenwahnsinniger Glaube, damit ungestraft davonzukommen. In welch vornehmen Kreisen er auch verkehrte, immer blieb er der wilde Junge, der mit seiner Gang um die Häuser zog und sich einfach nahm, was er haben wollte. 2007 zwang er in Las Vegas zwei Sammler von Fanartikeln mit vorgehaltener Waffe zur Herausgabe bestimmter Erinnerungsstücke, auf die er selber Anspruch erhob. Diesmal bestrafte man ihn demonstrativ mit der vollen Härte des Gesetzes: Das Gericht interpretierte den Vorfall als bewaffneten Raubüberfall mit Geiselnahme und verurteilte OJ zu einer Haftstrafe von mindestens neun und maximal dreiunddreißig Jahren. Natürlich wurde es de facto nur halb so wild: OJ Simpson kam schon 2017 auf Bewährung aus dem Gefängnis frei, nachdem er kaum die Minimalstrafe von neun Jahren abgesessen hatte.
Inzwischen ist auch der Bewährungszeitraum abgelaufen. OJ erfreut sich wieder seiner Freiheit und lebt als rüstiger Rentner in Las Vegas. Aus verschiedenen Fonds bezieht er Pensionen. Die Angaben zu deren Höhe schwanken in den einzelnen Berichten; auf jeden Fall handelt es sich um eine monatlich fünfstellige Summe. Das klingt viel, aber theoretisch ist OJ Simpson hochverschuldet. Zu den noch immer ausstehenden Forderungen der Opferfamilien sind infolge des Raubüberfalles weitere hinzugekommen. OJ war einmal ein schwerreicher Mann, aber das berüchtigte „dreamteam“ von hochkarätigen Rechtsanwälten, das er sich für seine Verteidigung kaufte, muss Unsummen verschlungen haben, so dass an Rücklagen nicht mehr viel übrig sein dürfte. OJ Simpson scheint das nicht zu stören. Er weiß, wie man sich Geldforderungen vom Leib hält. Dem Vernehmen nach führt er ein sorgloses Leben. Er lebt in einer Villa, die ein Freund ihm großzügig zur Verfügung gestellt hat. Er spielt viel Golf, was schon von Jugend an sein Hobby war. Er hat sich seine Knie operieren und seine Augen lasern lassen. Hin und wieder twittert er eine launige Nachricht in die Welt. Es geht ihm gut.
Achtung: Dieser Aufsatz ist das "Abfallprodukt" einer größeren Arbeit, die mich gerade beschäftigt. Es geht um das Thema Migrantenbonus (oder auch "Kulturbonus") vor Gericht. Zu den geschilderten Rechtsbeispielen (hier ist es der Fall Frederike von Möhlmann) ziehe ich jeweils Parallelen heran. Sie sollen mit der Zeit eine kleine Reihe von historischen Kriminalfällen bilden, die ich in meinem Blog einstellen werde.