Betonwüste Marzahn - hier entstand meine Reportage.

Im Mai 1982 wurde uns Fernstudenten am Leipziger Literaturinstitut im Rahmen einer Jahresarbeit die Aufgabe gestellt, eine Reportage zu schreiben. Das interessierte mich sofort; nicht umsonst war ich eine Journalistentochter. Meine Schwester Gabriele Stern, von der Ausbildung her Sozialpsychologin, arbeitete damals im Berufsberatungszentrum Marzahn und erzählte mir oft frustriert von den Problemen, mit denen dort die Schulabgänger konfrontiert waren.

Ich suchte mir ein paar besonders interessante Fälle aus und bat sie, mir die Adressen der betroffenen Jugendlichen zu vermitteln. Mehrere Nachmittage lang stiefelte ich durch die Betonburgen von Marzahn und interviewte fünfzehn-, sechzehnjährige Schüler. In der Folge entstand der Text "Vier Mädchen und der Ernst des Lebens", eine recht systemkritische Reportage über die Berufswege von vier jungen Mädchen. 

Am Literaturinstitut schlug das ein. In diesem internen, liberal denkenden Kreis scheute man sich nicht, auch politisch deftige Texte zu Gehör zu bringen, an deren Veröffentlichung in der DDR-Presse nicht zu denken war. 

Dadurch ermutigt, ließ sich meine Schwester zu einem verhängnisvollen Schritt verleiten: Sie drückte die Arbeit ihrer Kollegin vom Berufsberatungszentrum in die Hand. 

Die eilte mit dem schändlichen Machwerk flugs zu ihrem nächsten Vorgesetzten, der seinerseits Vorgesetzte alarmierte; die Geschichte soll angeblich Kreise bis zum Magistrat gezogen haben. Meine Schwester bekam einen Verweis, der ein Jahr lang ihre Kaderakte schmückte. Außerdem wurde sie vom Dienst suspendiert und musste zwei Wochen in einem Bürowarenlager die Bleistifte zählen. Damals stand sie im Begriff, ihre Stelle zu wechseln; ein Großbetrieb hatte ihr eine Arbeit als Betriebspsychologin angeboten. Doch als man dort hörte, was geschehen war, nahm man von einer Einstellung Abstand. Ein halbes Jahr verbrachte meine Schwester als Kellnerin an der Ostseeküste; später jobbte sie als Aushilfskraft in einem Warenhaus. Erst im folgenden Jahr fand sie nach endlosen Laufereien wieder Arbeit als Psychologin.

Im frischen Fahrtwind nach der Wende holte ich auch diesen Text, wie so viele andere, aus der Schublade hervor und bot ihn einer Zeitschrift an. Ich hatte vor, dieselben vier Mädchen ein zweites Mal zu interviewen, um zu sehen, was aus ihnen geworden war, und ihre damaligen Probleme mit den heutigen zu vergleichen. Natürlich wurde das Angebot abgeschmettert. Doch bis heute habe ich diesen zweiten Teil der Reportage als mögliches Projekt im Kopf. Vielleicht kommt ja noch der Tag, an dem ich es verwirkliche.

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