Christian Dettmar indessen, der einstige „Maskenrichter von Weimar“, wurde gnadenlos auf dem Altar des Rechtsstaates geschlachtet. Im Sommer 2023 fand vor dem Erfurter Landgericht die Verhandlung in seiner Sache statt. Die Anklage lautete auf Rechtsbeugung. Der Gerichtssaal war an allen Verhandlungstagen bis auf den letzten Platz gefüllt, und die Zuschauer sparten nicht mit Beifall für den Angeklagten und mit beißenden Kommentaren, die den Anklagevertretern galten. („Wo waren Sie denn, als die Kinder von der Schlittenbahn gejagt wurden?“) Draußen auf der Straße hielt man Mahnwachen und Protestkundgebungen ab. Die Solidarität war groß.
Christian Dettmar, seine Helden- und Märtyrerrolle sichtlich genießend, beteuerte in einer fast einstündigen Rede, er hätte in der strikten Maskenpflicht eine Gefahr für die Gesundheit der Kinder gesehen und deshalb als dem Kindeswohl verpflichteter Familienrichter nicht anders handeln können, als er gehandelt hatte. Das Gericht aber ließ sich auf keine Debatte über Sinn oder Unsinn der Maskenpflicht ein. Im Gegenteil, man war bemüht, das Verfahren zu entpolitisieren und das Handeln des Richters auf eine rein juristische Verfehlung zu reduzieren, vor der seine Motive und der Hintergrund Corona nur untergeordnete Rollen spielten.
Da war zum einen die Frage der Befugnis: Als Familienrichter, so die Staatsanwältin, sei Dettmar überhaupt nicht berechtigt gewesen, einen Beschluss bezüglich der Maskenpflicht an Schulen zu erlassen, denn diese falle in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Richter Dettmar hatte sich dagegen auf § 1666 BGB berufen, wonach Fälle, in denen das Kindeswohl gefährdet ist und die Eltern dem nicht abhelfen können, vom Familiengericht entschieden werden. Das war nicht abwegig, denn juristisch gesehen handelt es sich hier offenbar um einen Grenzfall der Zuständigkeiten, der von anderen Gerichten auch schon unterschiedlich gewertet wurde. So hatte etwa jener Leipziger Familienrichter sich trotz Verweisung auf das Verwaltungsrecht sehr wohl zuständig gefühlt, als er einen gleichen Klageantrag abwies, und niemand hatte daran Anstoß genommen. Im Prozess gegen den Richter von Weimar dagegen wurde der unliebsame Beschluss als „ausbrechender Rechtsakt[11]“ definiert und die Tatsache, dass Dettmar ihn erlassen hatte, als eine Art dreiste Amtsanmaßung.
Der gewichtigere Anklagepunkt betraf jedoch die Art und Weise, wie der Beschluss zustande kam. Die Trickserei mit den Anfangsbuchstaben, die gezielte Suche nach Gutachtern, die ganz bestimmte Haltungen in der Frage der Maskenpflicht vertraten, die schon im Vorfeld ersichtliche Absicht, den Klageantrag positiv zu bescheiden, das alles wurde von der Staatsanwältin voll moralischer Entrüstung geltend gemacht („Die Kinder waren nur Marionetten![12]“) und vom Gericht als ausschlaggebend bewertet. Es verurteilte Christian Dettmar zu einer Haftstrafe von zwei Jahren auf Bewährung, womit es immerhin darauf verzichtete, den damals Sechzigjährigen ins Gefängnis zu schicken, wie die Staatsanwältin gefordert hatte. Trotzdem bedeutete die Verurteilung für Dettmar den endgültigen Verlust seines Amtes und seiner Pensionsansprüche – wer mit Haft von über einem Jahr bestraft wird, darf nicht mehr als Richter tätig sein.
Der BGH, wo Dettmar nun in Revision ging, bestätigte und bekräftigte das Urteil im November 2024, also bereits zu einer Zeit, da man anfing, die Fehler und Überspitzungen aus der Coronazeit als solche zu erkennen und zaghaft aufzuarbeiten. Aber das nützte Dettmar gar nichts. Der Bundesgerichtshof stellte fest, er hätte geltende Verfahrensregeln so elementar verletzt, dass die Frage nach Inhalt und Motiv seines Handelns dagegen nicht mehr relevant sei. Wörtlich heißt es in dem BGH-Urteil:
Dass der Angeklagte die Verstöße gegen das Gebot richterlicher Neutralität in der vorgefassten Absicht beging, die von ihm gewünschte Entscheidung ohne Rücksicht auf etwaige rechtliche Beschränkungen zu treffen, wiegt derart schwer, dass es im konkreten Fall weder auf die Motive des Angeklagten noch darauf ankommt, ob die Endentscheidung materiell rechtskonform war[13].
Eine Argumentation, die rein juristisch kaum von der Hand zu weisen ist. Das soll nicht heißen, dass ich das BGH-Urteil und damit auch das Vorgängerurteil des Landgerichts Erfurt für richtig halte. Beides sind ideologische Urteile und in diesem Sinne bloße Vorwände, um einen „Nestbeschmutzer“ bestrafen und ein Exempel statuieren zu können. Die stichhaltige Argumentation, die Christian Dettmar seinen Gegnern geliefert hat, war für diese fraglos ein Gottesgeschenk, doch hätte es nicht zur Verfügung gestanden, so hätten sie etwas anderes gefunden – Juristen finden immer eine Argumentation, um zu beweisen, was sie zu beweisen wünschen.
Allerdings muss man auch konstatieren, dass es generell keine gute Idee war, ausgerechnet das Richteramt zu nutzen, um die staatlichen Corona-Maßnahmen zu kippen. Nur in den seltensten Fällen lässt sich ein System von innen her revolutionieren; und in diesem war von vornherein absehbar, dass der fragliche Beschluss zwar Staub aufwirbeln, doch niemals die Praxis verändern würde. Dettmar hat den Weimarer Kindern nicht geholfen und seine eigene Berufslaufbahn zerstört.
Noch gravierender fällt ins Gewicht, dass er notwendigerweise „tricksen“ und dem Zufall nachhelfen musste, um den Beschluss erlassen zu können. Sicher, viele Richter tricksen ungeniert und ungestraft – man denke nur an das Leipziger Gegenbeispiel –, doch gerade im Fall von Weimar wäre es schon extrem wichtig gewesen, dass alles sauber und „mit rechten Dingen“ zugeht, dass der juristische Rebell seinen juristischen Kontrahenten keine juristischen Angriffsflächen bietet. Man mag Christian Dettmar bewundern für seinen Mut und seinen Idealismus, doch der Weg, den er einschlug, war so nicht gangbar.
Dennoch sollten wir dankbar sein, dass es inmitten des Coronawahns Juristen wie Dettmar gegeben hat – ja, es waren tatsächlich mehrere, wenn auch insgesamt nur sehr wenige in diesem Berufsstand, der traditionell als besonders staatstreu und politisch korrekt gilt. Immerhin sollen am „Netzwerk kritischer Richter und Staatsanwälte[14]“, das sich Anfang 2021 online gegründet hat, zeitweise bis zu sechzig Juristen aus fast allen deutschen Bundesländern beteiligt gewesen sein; allerdings soll es sich mehrheitlich um pensionierte Richter gehandelt haben. Christian Dettmar ist durch seinen Masken-Beschluss zu einem der wichtigsten Vertreter dieser oppositionellen Justiz geworden. Das Zeichen, das er gesetzt hat, war Teil – und zwar ein viel beachteter Teil – des politischen Widerstandes nicht nur gegen die Corona-Politik, sondern auch gegen die damit verbundene Missachtung demokratischer Grundregeln.
Heute spricht man immer etwas verlegen und wie bagatellisierend von dem Porzellan, das man damals im Eifer des Gefechtes zerschlagen hat: Nun ja, es war doch eine nie gekannte Ausnahmesituation, alle hatten Angst, und die Mehrheit des Volkes stand auf Seiten der Regierung… Alles richtig. Bleibt nur zu hoffen, dass man aus den Fehlern gelernt hat und aus dem angerichteten immensen Schaden klug geworden ist. Bei der nächsten Pandemie oder Gesellschaftskrise wird man vermutlich etwas vorsichtiger sein mit der Anwendung von Zwangsmitteln oder Doktrinen. Und das wäre dann auch Richter Dettmars Verdienst.
[1] § 1666 Abs. 4 BGB hier online
[2] Beschluss des Amtsgerichts Weimar, Az. 9 F 148/21 vom 09.04.2021, hier online
[3] Beschluss des Oberlandesgerichts Jena, Az. 1 UF 136/21 vom 14.05.2021, hier online
[4] Dienstgericht für Richter bei dem Landgericht Meiningen, Beschluss vom 19.01.2023 - DG 1/22, hier online
[5] Wikipedia-Artikel „Rechtsbeugung“, hier online
[6] Hinweisbeschluss des Amtsgerichts Leipzig vom 15.04.2021, Az. 335 F 1187/21, S. 4. Das Dokument zählt nicht zu denjenigen, die stolz auf den offiziellen Justizportalen Deutschlands präsentiert werden, doch auf privat geführten Websites kann man Hinweis- und Kostenbeschluss noch im Volltext finden, etwa hier.
[7] Ebenda, S. 4
[8] Ebenda, S. 5
[9] Ebenda, S. 5
[10] Beschluss des Amtsgerichts Leipzig vom 16.04.2021, Az. 335 F 1187/21, S. 1, hier online.
[11] Entscheidung eines Gerichtes außerhalb des eigenen Kompetenzbereiches, hier online bei Wikipedia.
[12] Zitiert nach MDR Thüringen, Bericht vom 23.08.2023, hier online.
[13] Urteil BGH vom 20.11.2024 - 2 StR 54/24, hier online.
[14] KRiStA – Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte n. e. V., hier online.