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Beelitz-Heilstätten war einmal einer der größten Klinikkomplexe Europas. Doch wo einst Tausende von Lungenkranken Heilung fanden, herrscht heute nur noch schöner Verfall.
Verschimmelte Wände, halb eingestürzte Dächer und verschüttete Korridorfluchten – eine Verfallskulisse wie im Bilderbuch, die sowohl von vergangener Pracht als auch von gegenwärtiger Vernachlässigung kündet. Hier klicken die Fotoapparate, wenn Irene Krause, die engagierte Beelitz-Spezialistin, mit ihren Touristengruppen über das Gelände zieht. Beelitz-Heilstätten ist das, was man neudeutsch eine angesagte location nennt. Gern wird der Schauplatz für schräge Fotosessions oder als Drehort historischer Filme gewählt, und in den lauen Sommernächten halten hier die Jugendlichen ihre Gruselparties ab.
Dabei war der Ort alles andere als gruselig, als die Heilstätten einst errichtet wurden. Es war gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in Europa grassierte die Lungenschwindsucht. Besonders hart traf es die ärmeren Schichten unter der Großstadtbevölkerung. Wo Menschen eingepfercht in stickigen Mietskasernen auf engstem Raum miteinander lebten und die Ansteckung immer weiter trugen, nahm die Krankheit geradezu den Charakter einer Volksseuche an. Um 1880 war deutschlandweit jeder zweite Todesfall in den jüngeren Altersgruppen auf die Tuberkulose zurückzuführen. Und in der Reichshauptstadt, dem industriell rasant aufstrebenden Berlin, gab es natürlich in dieser Hinsicht besonders dringenden Handlungsbedarf.
Vom Kaiserpaar höchstselbst kam die Initiative zum Bau einer großen Lungenheilklinik im grünen Brandenburger Umland. 1898 nahm die Landesversicherung Berlin das ehrgeizige Bauvorhaben in Angriff. Im verträumten Beelitz entstand um die Jahrhundertwende ein riesiger Krankenhauskomplex – mehr als 60 Gebäude auf einer Gesamtfläche von über 200 Hektar, die bis zu 1.200 Tuberkulosepatienten aufnehmen konnten. Das damals noch junge Versicherungssystem gewährte jedem Lungenkranken, sofern er krankenversichert war, die volle Kostenübernahme für die Behandlung. So wurde Beelitz zum „Davos für Arme“: Wie die gut Betuchten, wenn die Schwindsucht sie ereilte, Heilung in den Schweizer Bergen suchten, wurden die erkrankten Berliner Arbeiter und Angestellten nach Beelitz geschickt, wo sie wochen- oder monatelange Kur- und Klinikaufenthalte in Anspruch nahmen.
In den Heilstätten herrschte ein strenges Regiment. Die Klinikbereiche waren züchtig nach Geschlechtern eingeteilt, die Tagesabläufe sorgsam durchgeplant. Bei der Behandlung setzte man in erster Linie auf Hygiene, frische Luft und gesunde Kost; in dieser Hinsicht gab es zwischen Davos und Beelitz keinen Unterschied. Die Patienten bekamen Liegekuren und Waldspaziergänge verordnet, dazu eine Unzahl von Anwendungen, die sie körperlich ertüchtigen sollten. Selbst bei den Mahlzeiten standen sie unter Bewachung: In jedem Speisesaal gab es eine Art Balkon, von dem aus ein Aufseher auf die Essenden herniedersah. Er hatte zu kontrollieren, dass die Kranken beim Essen Messer und Gabeln benutzen – für viele Menschen damals keine Selbstverständlichkeit – und dass sie ihr Essen nicht heißhungrig schlangen, sondern jeden Bissen langsam und gründlich kauten. „Schlimmer als beim Kommis“, hieß es unter den Kranken.
Freizeit gab es nur am Sonntag, wenn aus Berlin die Angehörigen der Patienten zu Besuch kamen. Dann ging es in Beelitz fast zu wie beim Volksfest: Da wurden Bratwürste gebrutzelt, die Kinder fuhren Karussell, und die Patienten wandelten mit ihren Besuchern die schönen Spazierwege entlang. Die Heilstätten waren günstig gelegen: Regionalzüge fuhren aus dem Zentrum Berlins binnen Kurzem bis direkt vor die Tore der Klinik. Vom Unterhalt der großen Krankenhausbetriebe profitierte die gesamte Region. Für die Verköstigung der Patienten wurden grundsätzlich nur Produkte aus der unmittelbaren Umgebung verwandt. Man buk in einer eigenen Bäckerei, man schlachtete in einer eigenen Fleischerei und butterte in einer eigenen Meierei. Tausende von Menschen fanden hier Arbeit als Pflegekräfte, Gärtner oder Küchenhelfer.
Als das Kriegsinferno 1945 auch die Heilstätten erreichte, war für immer Schluss mit dem Klinikbetrieb. Die Gebäude, die bereits erhebliche Kriegsschäden davongetragen hatten, wurden von der Roten Armee übernommen und während der gesamten DDR-Zeit ausschließlich durch diese genutzt. Das Gelände diente als Kaserne, vor allem aber als Militärhospital bzw. Sanatorium für die in der DDR stationierten sowjetischen Soldaten und deren Angehörige. Im OP-Trakt wurden die kompliziertesten Operationen durchgeführt; oft reisten Sowjetbürger eigens aus entlegenen Teilen Russlands an, um sich von den Beelitzer Spezialisten, deren Ruf ausgezeichnet war, behandeln zu lassen. Auch etliche Kinder wurden hier geboren; in deren Pässen allerdings war als Geburtsort grundsätzlich Moskau vermerkt. Beelitz galt auch rechtlich als eine Art Exklave, ein sowjetisches Territorium auf dem Boden der DDR.
Erst 1994 zogen die russischen Besatzer aus Beelitz ab. Sie hinterließen dem wiedervereinigten Deutschland einen zwar überalterten, aber baulich durchaus noch intakten Gebäudekomplex, der vielfältig hätte genutzt werden können. Doch das gestaltete sich schwierig, denn die meisten potenziellen Investoren scheuten das Risiko des abgelegenen Standorts und des hohen Sanierungsbedarfs. Dazu kamen all die bekannten Erscheinungen des Geschäftslebens in den 1990er Jahren: Betreiber, die sich als unseriös erwiesen, Politiker, die Projekte verhinderten, und eine Eigentümergesellschaft, die Insolvenz anmelden musste. Zwar wurden inzwischen drei Krankenhäuser auf dem Gelände etabliert, ein paar Gebäude auch anderweitig genutzt; doch immer noch bleiben Dutzende von Bauten, die leer stehen und allmählich verfallen. Immer wieder gibt es Anläufe und Pläne für eine Nutzung des Areals; doch bis zur Realisierung werden, falls sie denn überhaupt stattfindet, noch Jahre, vielleicht gar Jahrzehnte ins Land gehen, und viele der Gebäude, die heute eventuell noch zu retten wären, wird der Verfall dann verschlingen. Irene Krause, die engagierte Beelitz-Führerin, beklagt vor ihrer Touristengruppe, dass sich weder die regionalen noch die staatlichen Behörden für die Erhaltung dieses Baukomplexes interessieren, der in ganz Europa seinesgleichen sucht. Er werde einfach dem Verfall überlassen.
Und so führt sie weiter ihre Besucher durch die „angesagte location“, zeigt ihnen die verschimmelten Wände, die halb eingestürzten Dächer und die verschütteten Korridorfluchten. Die Fotoapparate klicken, die Verfallskulisse ist gar zu schön. Doch in das angenehme Gruseln, das uns beim Anblick des vermoderten Ambientes ergreift, mischt sich leise Schwermut, wenn wir daran denken, dass dies einst ein Ort der Heilung war, der die ganze Region mit Leben erfüllt.
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