Eine Bananenkiste voller Bücher - gehören sie alle auf den Müll...?Wer umzieht, muss aussortieren: Was landet auf dem Müll, was wird behalten? Doch wenn es Bücher sind, die man aussortieren und über deren Zukunft man entscheiden soll, wird die Sache schwierig. 

Kürzlich bin ich umgezogen. Meine neue Wohnung ist viel kleiner als die alte, so dass vor dem Umzug Ausmisten angesagt war. Möbelstücke wurden verkauft oder verschenkt, und all die jahrelang gehorteten Haushaltsgegenstände, die „für alle Fälle“ im Schrank oder in der Abstellkammer vor sich hin gedämmert hatten, wurden gnadenlos auf den Müll geworfen. Vor allem aber wollte ich meine Bibliothek drastisch reduzieren. Mindestens 50 % meines Bücherbestandes, das hatte ich mir fest vorgenommen, sollten nicht mit in die neue Wohnung ziehen.

Ich hatte von meinen Eltern eine stattliche Bibliothek geerbt und in jüngeren Jahren auch selbst etliche Bücher angeschafft. Dabei bin ich durchaus keine Sammlerin – der bloße Besitz einer Rarität oder eines schön gestalteten Buches bedeutet mir überhaupt nichts. Eine Bibliothek ist in meinen Augen nur dann etwas wert, wenn man systematisch mit ihr arbeitet und lebt; doch in den letzten Jahren war das immer weniger der Fall. Das Gros meiner Bücher verstaubte seit Jahrzehnten unberührt im Regal. Zwar befasste ich mich ständig mit Literatur, doch wenn ich etwas Bestimmtes nachlesen wollte, fand ich gerade das garantiert in meinem eigenen Buchbestand nicht vor und musste Büchereien in Anspruch nehmen. Zudem nutzte ich eifrig die Vorzüge des digitalen Zeitalters, das bekanntlich gerade ein Übriges tut, um die Bücherregale des Bildungsbürgers für immer überflüssig zu machen: Zitate schlägt man heute bei Google nach, Klassikerausgaben gibt es bei Kindle umsonst, und auf Reisen nimmt man statt der kiloschweren Bücher einen Tablet-PC voller ebooks mit. Kein Wunder, dass man auch die analogen Bücher, die man ausgelesen hat, lieber an Freunde weitergibt, als sie lebenslang ins Regal zu stellen. Die Zeit der Heimbibliotheken geht zu Ende.

 In meinem Wohnungsumzug sah ich eine willkommene Gelegenheit, den verstaubten Papierballast abzuwerfen, den ich zeitlebens gehortet hatte. Nur die edelsten und wichtigsten Bücher sollten mich in die neue Wohnung begleiten. Also galt es eine Auswahl zu treffen; und es musste schnell gehen, denn der Umzugstermin rückte bedrohlich näher. Für die Abwägung literarischer oder historischer Werte blieb mir keine Zeit; nur mein spontanes Gefühl, mein erster Impuls sollte die Entscheidung bringen: die Guten ins Töpfchen, also in die bereitgestellten Umzugskartons, die Schlechten ins Kröpfchen, also in die Bananenkisten, die für Büchertische und Sozialläden bestimmt waren; denn meine Anläufe, die Bücher an Kenner zu verkaufen, waren auf das Kläglichste gescheitert. Ich hatte alle Antiquare Berlins angeschrieben, doch kein einziger hatte auf meine Kauf- und Schenkangebote reagiert. Vermutlich werden diesen Leuten von allen Seiten Bücher angeboten, die sich heutzutage kaum noch gewinnbringend weiterverkaufen lassen.

Systematisch ging ich meine Bestände durch, und während ich Buch für Buch entschied, ob ich es abstoßen oder behalten würde, kam ich mir vor wie die Literaturgeschichte selbst, wenn sie aus dem riesigen Wust der geschriebenen Worte diejenigen auswählt, die stark genug sind, um die Zeit zu überdauern. Ja, in meinem Tun lag eine tiefe Symbolik: Auch die Literaturgeschichte ist in einem ständigen fieberhaften Umzug und Umbruch begriffen, und auch sie wirft immer wieder literarischen Ballast ab, um in gnadenlos strenger Auslese nur das mitzunehmen in den Wandel der Zeiten, was auf geheimnisvolle Weise Bestandskraft hat. Den wenigsten Autoren ist es gelungen, ein Werk zu schaffen, das sie überlebt. Das Buch ist eine leicht verderbliche Ware, und niemals fühlt man das so stark, als wenn man im Vorfeld eines Umzugs den eigenen Buchbestand aussortiert.

Erschreckend schnell waren die „guten Bücher“ meiner Eltern aus der Mode gekommen – wer liest heute noch Autoren wie Anna Seghers oder Arnold Zweig, wie Thomas Wolfe oder Louis Aragon? Alle Bücher dieser einst so hoch angesehenen und verehrten Autoren wanderten in die Bananenkisten. Noch vor wenigen Jahrzehnten hatten sie die erste Reihe der Literatur repräsentiert, man hatte ihnen Preise verliehen, hatte Doktorarbeiten über sie geschrieben und in ihren Sentenzen Offenbarungen erblickt. Jetzt ruhten sie in den Bananenkisten wie in papiernen literarischen Gräbern. Die Zeitgenossen haben anderes zu lesen.

Auch die DDR-Literatur fiel fast vollständig durch den Rost beziehungsweise in die Bananenkiste; und das galt nicht nur für die „Dogmatiker“, also die offiziellen literarischen Vertreter des SED-Regimes, sondern auch für die „Dissidenten“, also solche Autoren, deren Bücher zu DDR-Zeiten heiß begehrt waren, weil sie kleine oder größere politische Aufmüpfigkeiten enthielten – oder das, was die Leser damals für politische Aufmüpfigkeiten hielten. Jetzt war der Sensationseffekt dieser Aufmüpfigkeiten erloschen und mit ihm zugleich in den allermeisten Fällen auch jeder Lesereiz. Dogmatiker und Dissidenten teilten sich dieselben Bananenkisten: Da lag Ruth Werners „Sonjas Rapport“ neben Stefan Heyms „König David Bericht“, da lag Hermann Kants „Aula“ neben Jurek Beckers „Irreführung der Behörden“ und Christa Wolfs „Geteilter Himmel“ neben den Stücken von Hacks und Müller. Keinen dieser Autoren würde ich in meinem neuen Zuhause vermissen.

Mir fiel auf, dass ich vor allem die erfolgreichen unter den Literaten verwarf, während die bescheidenen eine größere Chance auf ein Weiterleben im Regal besaßen. Ich hatte das keineswegs bewusst so geplant – Erfolg ist schließlich nicht unbedingt ein Kriterium für mangelnde Qualität. Und doch war es so: Goethes gesammelte Werke landeten komplett in der Bananenkiste, während es Autoren wie Lenz oder Kleist in meine Bücherregale schafften. Als ich die Bücher von William Somerset Maugham sorgsam im Umzugskarton verstaute – denn auch sie sollten weiterhin mein Leben begleiten –, fiel mir ein, dass Maugham sich selbst als einen sehr guten Schriftsteller zweiter Klasse gesehen hatte („in the very first row of second class writers“). Wie viele von denen, die er damals vielleicht der ersten Klasse zugeordnet hatte, mochten wohl mittlerweile in der Bananenkiste gelandet sein.

Mit ähnlich selbstironischem Understatement äußerte sich Mascha Kaléko, die Berliner Großstadtlerche der 1920er Jahre:

Weiß Gott, ich bin ganz unmodern.
Ich schäme mich zuschanden:
Zwar liest man meine Verse gern,
Doch werden sie – verstanden!

Ja, ihre Verse wurden gern gelesen und verstanden und hatten folglich keine Chance, vom offiziellen Literaturbetrieb für seriös und wertvoll gehalten zu werden. Mascha Kaléko zählte, ebenso wie William Somerset Maugham, zu den leichtgewichtigen Unterhaltungsautoren, die auf Preise und Ehrungen verzichten mussten. Gepriesen und geehrt werden stets nur diejenigen, die so tiefsinnig schreiben, dass kein Mensch sie versteht; doch gerade das sind ein, zwei Generationen später die sichersten Kandidaten für die literarischen Bananenkisten. Mascha Kaléko hat nur ein schmales Werk hinterlassen, aber das wird selbstverständlich komplett in meine neue Wohnung einziehen.

Letztendlich war dieses Büchersieben eine ziemlich traurige Arbeit – nicht weil es mir schwer gefallen wäre, meinen Besitz zu reduzieren. Im Gegenteil, ich wollte entschlacken, wollte mich befreien von all dem Wust, den ich so nutzlos durchs Leben schleppte. Doch es ist schon ein Unterschied, ob man ein Haushaltsgerät auf den Müll wirft oder ein Buch in die Bananenkiste. Wir haben uns daran gewöhnt, dass materielle Produkte vergänglich und binnen kurzem technisch überholt sind. Doch dass dies auch für die Produkte unseres Geistes gilt, für Erinnerungen, Träume, Gesellschaftsutopien, das ist ein schmerzlicher Gedanke. Jedes einzelne dieser Bananenkisten-Bücher hatte jahrelange Arbeit gekostet, hatte das Herzblut seines Autors getragen und den Geist seiner Gesellschaftsepoche. Jedes einzelne hatte seine Geschichte, seine Debatten und Aufregungen – jedes einzelne war das Denkmal einer Zeit, da das geschriebene Wort noch in hohen Ehren stand. Zwar hatte ich mich geweigert, diese Bücher einfach in den Altpapiermüll zu werfen; aber war nicht die bloße Trennung von ihnen wie eine kleine Bücherverbrennung, wie die Entsorgung des Geistes und Gedächtnisses der Menschheit? Eine Freundin, die mir beim Umzug half, war den Tränen nah, als sie den riesigen Berg der aussortierten Bücher sah. Ich hatte ihr die Aufgabe zugeteilt, diesen Berg in den Bananenkisten zu verstauen; doch immer wieder, trotz der drängenden Zeit, nahm sie eins der Bücher in die Hand und las sich fasziniert daran fest. „Ach, diese Menschen haben so wunderbar geschrieben!“, rief sie kopfschüttelnd und voller Schmerz, als könnte sie es gar nicht fassen, dass all diese Schönheit so vergänglich war. Sie hat dann einige der ausgemusterten Bücher für ihre eigene Bibliothek gerettet; doch wenn sie selber einmal umzieht und ihren Buchbestand reduzieren muss, womit wird sie dann die Bananenkisten füllen?

Ein literarischer Umzug hält zur Demut an. Er ist eine Lektion in Vergänglichkeit, nicht nur für den, der den Ehrgeiz hat, Bücher zu schreiben: All das, was wir heute wichtig finden, wird morgen mit einiger Wahrscheinlichkeit zum Inhalt einer Bananenkiste.

 

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