Christoph SchrothIm heißen Herbst 1989 brachte Christoph Schroth in Schwerin Schillers "Wilhelm Tell" auf die Bühne - und plötzlich war es kein öder Klassiker mehr, sondern ein brisantes DDR-Gegenwartsstück. 

Ich bin zwar Schiller-Verehrerin, doch den „Wilhelm Tell“ hatte ich immer für das schlechteste aller Schiller-Dramen gehalten. Nein, nicht wirklich für schlecht, aber – es war so bieder. Wackere Helden, treusorgende Frauen, ein naives Weltbild von Guten und Bösen, und dann noch diese ständigen Kalendersprüche, die von den Figuren abgesondert werden! Statt menschlicher Abgründe gab es nur die Schluchten der idyllischen Schweizer Berge. Keine Grübler, keine Zweifler, keine Verräter. Warum hatte Schiller nicht lieber den „Demetrius“ vorgezogen, ein Stück, in dem ganz anders die Fetzen flogen als in diesem Drama einer behäbigen Spießerrevolution?

So dachte ich bis zum 10. Oktober 1989. An diesem Abend stand in der Ostberliner Volksbühne ein Gastspiel auf dem Programm: Das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin gab Schillers „Wilhelm Tell“ in der Regie von Christoph Schroth.

Es war die Zeit, da in der DDR gerade das große Gesellschaftsgewitter grollte, das die Herren von Wandlitz hinwegfegen sollte. Die Luft in Ostberlin war so dick, dass man sie mit Messern hätte schneiden können. Obwohl die Schweriner Tell-Inszenierung erst seit wenigen Wochen auf dem Spielplan stand, eilte ihr bereits ein glänzender Ruf voraus, und nicht allein in ästhetischer Hinsicht: Vielmehr hieß es, Schroth sei es gelungen, aus dem „Tell“ ein Gegenwartsstück zu machen. Und das fachte meine Neugier an. Die Karten für das Gastspiel waren heiß begehrt, doch ich hatte Sorge getragen, rechtzeitig welche zu ergattern.

Christoph Schroth galt damals als einer der bedeutendsten DDR-Regisseure. Auch ich war mehr als einmal nach Schwerin gewallfahrtet, um eine seiner Inszenierungen zu sehen. Ich kannte auch die Geschichte der Tell-Inszenierung: Schroth hatte eigentlich das russische Stück „Weiter! Weiter! Weiter!“ von Michail Schatrow auf den Spielplan setzen wollen, eine direkte Auseinandersetzung mit der kommunistischen Ideologie, doch das wurde ihm von den Genossen der SED-Bezirksdirektion, die es zu aufmüpfig fanden, verboten. Als Schroth stattdessen „Wilhelm Tell“ vorschlug, waren die Genossen erfreut und erleichtert: Große deutsche Klassik, schöne Schweizer Berge, weit weg von der heiklen Gegenwart, dagegen war doch nichts zu sagen! Die Schauspieler dagegen schüttelten die Köpfe; wahrscheinlich hielten sie vom Stück so wenig wie ich und dachten, ihr Intendant wäre vor den Genossen in die Knie gegangen.

Doch schon die Proben sollten sie eines Besseren belehren. „Wilhelm Tell“ in der DDR von 1989, das erwies sich als geniale Kombination, und Christoph Schroth ist nicht genug dafür zu preisen, dass er diese Kombination erkannt hat. Hätte er das „aufmüpfige“ Schatrow-Stück auf die Bühne gebracht, es hätte nicht halb so radikal gewirkt wie Schillers biederes Heldenepos. Nie hatten sich die Genossen von der SED-Bezirksdirektion ein schöneres Eigentor geschossen.

Am Abend des 10. Oktober 1989 habe ich Schillers Stück zum ersten Mal verstanden, zum ersten Mal wahrhaft erlebt: in der grollenden Gewitterstimmung vor dem Ende der DDR, inmitten hoffnungsvoll begeisterter Menschen, die sich zum Aufbruch in die Freiheit rüsteten und diesen Aufbruch in der Vorstellung bereits vorweggenommen fanden, in seiner Größe und in seiner Komik. Es war, als ob die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Spiel und Realität verschwammen: Die Zuschauer schienen mitzuspielen, und die Schauspieler schienen ihre Rollen zu vergessen. Sogar die Kabarett-Effekte, die man unter normalen Umständen womöglich billig gefunden hätte, entfalteten jetzt eine vernichtende Satire, etwa die herrliche Szene mit dem Hut, der gegrüßt werden muss, von Schroth voll als Stasi-Parodie inszeniert und von den Zuschauern mit brüllendem Gelächter quittiert. Und die pathetischen Szenen erst: Bis heute höre ich den Satz: „Zerstört das Denkmal der Tyrannenmacht!“, vom Darsteller direkt ins Publikum gesprochen und mit einem Beben in der Stimme, das unmöglich gespielt sein konnte; und ich höre den donnernden Beifall, mit dem der Saal diesen Satz quittierte und der nicht nur der Kunst des Darstellers galt. So ähnlich muss es bei der Uraufführung der „Räuber“ zugegangen sein. Was für ein Theaterabend! Was für ein hoffnungsfroher Revolutionsherbst, so kurz und so trügerisch er auch war! Und was für ein Autor, der noch zweihundert Jahre nach seinem Tod solch eine Kraft verströmt!

 

Comments powered by CComment