Prozessverschleppung

Ein Prozess nach polnischem Recht konnte äußerst langwierig und teuer werden, denn sowohl die Verfahrens- als auch die Gutachterkosten waren vom Kläger zu verauslagen; und selbst wenn ich nach Jahren den Prozess gewann, konnte es passieren, dass ich einen Teil der Kosten selbst tragen musste. Zum Glück hatte ich Anspruch auf Prozesskostenhilfe. Dieser wirkte im Rahmen des EU-Rechts auch über Ländergrenzen hinweg; es war nur sehr schwierig, ihn in einem solchen Fall geltend zu machen. Als ich beim zuständigen Amtsgericht in Berlin EU-Prozesskostenhilfe beantragen wollte, brachte ich die Rechtspfleger nicht wenig in Verlegenheit: Anscheinend war ich dort der erste Mensch, der Prozesskostenhilfe nach den neuen europäischen Richtlinien begehrte, und niemand kannte die dafür notwendigen Amtswege und Formulare. Mehr als ein volles Jahr verging, bevor der Antrag glücklich genehmigt und nach Polen weitergeleitet wurde.

Ein weiteres Jahr ging für Schriftsätze und juristisches Vorgeplänkel drauf. Endlich wurde im Oktober 2016 ein Verhandlungstermin anberaumt – und in letzter Sekunde wieder abgesagt, da einem der beklagten Zahnärzte, der umgezogen war, die gerichtliche Ladung nicht rechtzeitig zugestellt werden konnte. Zwar war die Adresse des Mannes schnell ermittelt, doch zu einer neuen Ladung kam es nicht. Stattdessen hob das Gericht in einem urplötzlichen Sinneswandel den Verhandlungstermin ganz auf und ordnete im Wege des Amtshilfeersuchens in Berlin eine Befragung des deutschen Zahnarztes an, der damals den Pfusch seiner polnischen Kollegen wieder gerichtet hatte.

Rein inhaltlich war das ein völlig sinnloser Schritt, denn der Zahnarzt konnte sich nach all den Jahren natürlich nicht mehr an meinen Fall erinnern, sondern ihn lediglich anhand seiner Patientenakte rekonstruieren, die dem Gericht schon lange vorlag. Wahrscheinlich ging es einfach darum, Zeit zu schinden und sich diesen komplizierten Fall so lange wie möglich vom Tisch zu halten. Der Weg der länderübergreifenden Amtshilfe ist lang und gewunden: Bis das Anliegen des Stettiner Gerichtes in Berlin ankam, bis ein Termin für die Befragung des deutschen Zahnarztes anberaumt war, bis diese Befragung dann durchgeführt, protokolliert und zurückgeschickt wurde, ging resultatlos ein weiteres Jahr ins Land. Immerhin, der deutsche Zahnarzt sagte in meinem Sinne aus, und als das Protokoll der Befragung vorlag, atmete ich durch und hoffte auf einen baldigen Verhandlungstermin.

Doch ein Monat um den anderen verstrich, und das Stettiner Gericht ließ nichts von sich hören. Jeden Monat schrieb ich meinem Anwalt eine Mail mit der stereotypen Frage, ob sich in dem Fall etwas bewege; das war in meinem Terminplan eine feste Größe. Endlich hakte der Anwalt, meines ewigen Drängelns überdrüssig, beim Gericht nach und erhielt überraschend die Auskunft, die Befragungsprotokolle wären aus Berlin noch nicht eingetroffen.

Ich rief beim Berliner Gericht an und erfuhr, dass man die Befragungsprotokolle bereits vor einem halben Jahr an das Amtsgericht Stettin gesandt hatte. Niemand hatte sie dort empfangen oder sich je nach ihnen erkundigt. Ohne mein Nachbohren wäre dieser Rechtsfall einfach im Nirwana verschwunden und niemals wieder aufgegriffen worden.

Nun riss mir doch der viel zu lange strapazierte Geduldsfaden. Ich bestand auf einer erneuten Anforderung der Protokolle, bot sogar an, sie persönlich nach Stettin zu bringen, damit der Empfang nicht geleugnet werden konnte. Zum Glück interessierte sich gerade mal wieder ein Fernsehteam für meinen Fall – ich sage, mal wieder, denn vor Jahren hatte es schon mal einen Fernsehbericht gegeben. Auch mit dieser Medienpräsenz drohte ich und kündigte dramatische Enthüllungen vor der Kamera an.

Die Erlösung kam dann völlig unverhofft: Mein Anwalt teilte mir in schlichten Worten mit, die Protokolle hätten sich angefunden und das Gericht hätte kurzfristig einen neuen Verhandlungstermin anberaumt. Alles sei auf dem besten Wege. Ob ich diese Wendung einem meiner verzweifelten Anläufe verdankte oder welche Kräfte sonst dabei im Hintergrund wirkten - ich selbst tippe auf den Fernsehbericht -, werde ich vermutlich nie erfahren.

Ein unbefriedigender Vergleich

Am 16. Oktober 2018 fand vor dem Amtsgericht Stettin die Verhandlung in meiner Zahnarztsache statt. Die Richterin, eine jüngere Frau mit sehr strenger und sachlicher Ausstrahlung, erkundigte sich gleich zu Anfang, ob Vergleichsverhandlungen geführt worden wären. Gewiss, erklärten die Vertreter beider Seiten, doch ein Vergleich sei leider nicht zustande gekommen. Die Richterin ordnete an, wir mögen alle vor die Tür gehen und es noch einmal versuchen.

Das taten wir, doch wie schon mehrmals zuvor konnten wir uns auf keinen Vergleich einigen. Der beklagte Zahnarzt – seine Kollegin war persönlich nicht erschienen – nannte mir den Betrag, den er zu zahlen bereit war, einen lächerlich geringen Betrag, den ich voller Empörung zurückwies; und was ich meinerseits verlangte, erschien wieder ihm empörend hoch. Also zeigten wir uns gegenseitig einen Vogel und kehrten in den Gerichtssaal zurück, um der Richterin achselzuckend mitzuteilen, die Vergleichsverhandlungen seien gescheitert.

Die Richterin reagierte ungehalten: Ob es wirklich in unserem Interesse sei, fragte sie streng, dass dieser Fall noch über Jahre das Gericht beschäftige? Allein die zahnärztliche Begutachtung, die man als nächstes veranlassen müsse, werde Monate in Anspruch nehmen. Nicht nur das Gericht sei überlastet, auch Gutachter seien schwer zu bekommen. Mit einem Wort, die Frau bekundete das dringende Bestreben, diesen leidigen Fall vom Tisch zu bekommen, und sie wäre beiden Seiten gegenüber äußerst unangenehm geworden, wenn wir auf unseren Positionen bestanden hätten. Ich konnte sie sogar verstehen – gerade eben hatte ich die Zustände im Gerichtsgebäude erlebt, die wartenden Menschen auf den Gängen, die entnervten Mitarbeiter, die hektisch-ruppige Atmosphäre. Das Gericht war wirklich überlastet, keine Frage. Ich hatte mir geschworen, keinesfalls unter zweitausend Euro zu gehen; doch jetzt hörte ich mich murmeln: „Tausendfünfhundert.“ Mein Anwalt rief die Zahl auf Polnisch in den Raum wie ein Auktionsgebot, die Gegnervertreter sagten ja, und bevor ich recht begriff, wie mir geschah, begann die Richterin auch schon mit dem Diktat des Vergleichsprotokolls. Nach nicht mal einer halben Stunde war mein Zahnarztfall, der sich so lange fruchtlos hingeschleppt hatte, Geschichte.

 

Fazit

Meine erste Reaktion, nachdem ich wieder klar denken konnte, war das Gefühl, hoffnungslos überfahren und übervorteilt worden zu sein. In finanzieller Hinsicht war der Vergleich ein Desaster. Die 1.500,-- €, die ich bekam, deckten gerade einmal den Schadenersatz, nicht jedoch die Auslagen, die mir im Laufe der Jahre entstanden waren. Allein für diesen Gerichtstermin hatte ich fast 350 Kilometer verfahren, für die mir aufgrund des Vergleichs kein einziger Cent erstattet wurde. Auch die Schmerzensgeldforderung war gänzlich unter den Tisch gefallen. Wie hatte ich mich nur auf einen derart faulen Deal einlassen können!

Mein Anwalt dagegen betrachtete den Vergleich als optimale Lösung, gleichsam als das Zerhauen eines gordischen Knotens. Schließlich müsse man auch andere Aspekte als die erzielte Summe bedenken. Beispielsweise hätte die Gerichtskasse in vollem Umfang die Verfahrenskosten übernommen, so dass alle Beteiligten finanziell glimpflich aus der Sache herausgekommen seien. Hätte der Prozess sich fortgesetzt, so wären die Kosten unabsehbar geworden, und das bei denkbar unsicherem Ausgang.

Unter diesem Aspekt redete auch ich mir schließlich die Sache schön. So gering die finanzielle Ausbeute war, ich musste es nach Lage der Dinge schon als ein reines Wunder ansehen, dass ich überhaupt etwas bekommen hatte. Wenn ich daran dachte, wie hochmütig die beiden Zahnärzte anfangs jedes Vergleichsangebot abgelehnt hatten, wie fest überzeugt sie gewesen waren, auf ihrem Terrain unangreifbar zu sein, dann durfte ich mir zumindest einen kleinen Achtungserfolg zugestehen. Und außerdem, hatte mein Anwalt nicht Recht? Wäre der Ausgang des Prozesses nicht mehr als fragwürdig gewesen? Nie hatte ich jenen „Gutachter“ von der Versicherung vergessen, der zugunsten der Gegenpartei entschied, ohne mich auch nur untersucht zu haben. Was, wenn so etwas in Polen Usus war? Und was, wenn die polnischen Justizbeamten nationale Antipathien hegten gegen die arrogante Deutsche, die sich in Polen zum Schnäppchenpreis die Zähne richten ließ und das Ergebnis dann auch noch bemäkelte? Die Tendenz, den Prozess zu verschleppen, hatte sich ja schon klar gezeigt. Mit dem Vergleich hatte ich zwar nicht den Prozess, aber dafür Zeit und Seelenfrieden gewonnen.

Was bleibt, ist ein übler Nachgeschmack über die Unmenge an Zeit und Arbeit, die letztendlich so wenig eingebracht hatte. In der Zwischenzeit hat es eine gesetzliche Regelung gegeben, wonach Reklamationen zu im Ausland vorgenommenen Zahnbehandlungen auch in Deutschland geltend gemacht werden können. Leider kam sie für mich zu spät. Sie hätte mir einiges erspart.

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