Zusammenbruch der heilen Naziwelt

Auch der Krieg, mit dem sein Führer die Welt überzieht, ändert zunächst an dieser Haltung nichts. Finckenstein ist Reserveoffizier und wird gleich im Sommer 1939 eingezogen, doch von den Gräueln des Krieges erlebt er nicht viel. Gleich nach dem Abschluss des Polenfeldzugs lässt die Familie ihre Beziehungen spielen, um ihm eine bequeme Etappenstellung in der Schreibstube zu verschaffen. Dort ist er weit vom Schuss im wahrsten Sinne des Wortes und darf sich sogar als Autor betätigen. Seine Frau Eva versorgt indessen die Kinder und das Fischereigehöft. Da die Arbeitskraft des Hausherrn fehlt, werden russische und polnische Zwangsarbeiter angefordert. Es ist ja nur vorübergehend, schließlich kann der Endsieg nicht mehr fern sein.

Die allmähliche Erkenntnis, dass der Endsieg ausbleibt, kommt für einen Mann wie Finckenstein einer Katastrophe gleich. Zum zweiten Mal im Leben sieht er seine Existenz in ihren Grundfesten wanken, sieht alles verfallen, woran er glaubte. Er erlebt, wie sich der Krieg gegen sein Vaterland kehrt. Wie das Donnergrollen der russischen Kanonen von Osten her mit jeder Nacht lauter wird. Wie die stolze „Volksgemeinschaft“ zu einer elenden Flüchtlingsschar verkommt.

Und diesmal ist nicht nur er allein betroffen. Auch die Gräfin Finckenstein muss im Januar 1945 mit ihren Kindern auf den Treck gehen. In Mecklenburg gibt es eine Tante, die der Familie Unterschlupf gewährt. Finckenstein selbst hat Glück im Unglück: Er gerät in amerikanische Gefangenschaft; und als der ihn vernehmende Oberst erfährt, dass er fünf Kinder hat, lässt er ihn kurzerhand wieder laufen.

Im Frühjahr 1945 findet Finckenstein nach langer Irrfahrt in Mecklenburg seine Familie wieder. Das Wiedersehen wird unter den Nachfahren als rührende Episode bewahrt: Die Gräfin steht gerade Schlange nach Milch, als eine völlig abgewrackte und kahl geschorene Gestalt auf sie zukommt. Missbilligend gleitet ihr Blick über die schmutzige Hose und den zerrissenen Uniformmantel hin. Dann aber kommt ihr der Gedanke: So sieht mein Mann jetzt vielleicht auch aus. Mitleidig blickt sie zu ihm auf, sie erkennt sein Gesicht, ihr Herz macht einen Sprung… Eine Szene wie aus einem Finckenstein-Roman.

 

Phönix aus der Asche

Nun heißt es, wieder ganz von vorn anfangen. Einen Rückweg in die alte Heimat und den alten Wohlstand gibt es nicht, dafür fünf Kinder, die ernährt sein wollen. In der Nähe von Lübeck kann die Familie mit viel Glück ein Häuschen ergattern, doch das Geld, das man verdient, reicht vorn und hinten nicht. Die Finckensteins führen einen täglichen Kampf mit dem Hunger und den widrigen Lebensumständen, und sie entfalten dabei eine erstaunliche Lebenstüchtigkeit. Besonders Eva läuft zu großer Hochform auf, versorgt die Kinder, nimmt ihre Tätigkeit als Redakteurin wieder auf und findet dabei sogar noch die Zeit, sich in der Politik zu engagieren: Sie wird Mitbegründerin des „Bundes der Heimatvertriebenen und Entrechteten“, einer stark rechtsgerichteten Partei, die gerade in Schleswig-Holstein, dem Land mit dem höchsten Bevölkerungsanteil an Flüchtlingen im gesamten Bundesgebiet, in jenen Jahren großen Zulauf hat. Hier macht Eva rasch Karriere, und als sie 1953 gar in den Bundestag gewählt wird, sind die Hungerjahre für die Familie vorbei. Die Finckensteins sind angekommen in der Bundesrepublik.

Auch Ottfried Graf Finckenstein hofft auf ein Comeback in der ihm fremden neuen Zeit. Über Jahre arbeitet er an einem ehrgeizigen Romanprojekt: „Schwanengesang“ ist ein melancholischer Rückblick auf die verlorene Heimat seiner Jugend. Der Roman ist als erster Teil einer großen Trilogie konzipiert, die zeitlich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs fortgesponnen werden soll; und dabei geht es Finckenstein auch um eine geistige Auseinandersetzung mit der Ideologie des Nationalsozialismus, einem Thema, das ihn anhaltend und schmerzlich beschäftigt. Was er in jenen Nachkriegsjahren über die Verbrechen des Hitlerregimes erfuhr, hat ihn in eine tiefe Krise gestürzt. Lange Zeit kann er nicht damit fertig werden, dass auch er ein Teil dieses verbrecherischen Apparates gewesen war. Das will er seinen Lesern zur Diskussion stellen.

Aber Finckenstein hat keine Leser mehr: „Schwanengesang“ floppt auf dem deutschen Buchmarkt, und der Verlag verzichtet auf die Herausgabe weiterer solcher Bücher. Es liegt nicht daran, dass man Finckenstein als „belasteten“ Nazi-Autor einstuft. In den Kreisen, wo er sich bewegt, wirft ihm kein Mensch seine Vergangenheit vor. Doch die melancholischen Heimatromane, die so gut zur Blut-und-Boden-Ära passten, sind in der Nachkriegszeit nicht mehr gefragt. Autoren wie Borchert, Böll und Grass bestimmen jetzt das literarische Leben. Ottfried Graf Finckenstein ist als Autor passé.

 

Wohlstand und Resignation 

Fortan schreibt er nur noch gelegentlich kleine Erzählungen oder Zeitungsartikel. Das Geld zum Leben verdient er als Texter in einer Werbeagentur. Er hat durchaus Erfolg dabei, doch was ist dieser Erfolg gegen den seiner Frau? Um die Mitte der 1950er Jahren hat sie sich endgültig in der Politik etabliert. Vom Bund der Heimatvertriebenen, der zusehends an Bedeutung verliert, wechselt sie zur CDU. Und als ihr Bundestagsmandat ausläuft, ist es ihr ein Leichtes, sich attraktive Auslandsstellungen zu verschaffen. 1959 gehen die Finckensteins nach Chile, wo Eva als Vertreterin des Generalkonsuls eingesetzt wird. Ein paar Jahre später versetzt man sie nach Kanada. Dort arbeitet sie als Kulturreferentin an der Deutschen Botschaft in Ottawa, gründet das erste kanadische Goethe-Institut – die klassische Karrierefrau der Nachkriegszeit.

 Ihr Mann versucht, gegen die Rolle des Prinzgemahles anzurudern. In Valparaiso leitet er die deutsche Bibliothek. In Ottawa kann er sogar einen Lehrstuhl an der Universität bekommen: Ein paar Jahre lehrt er kanadische Studenten die deutsche Sprache und Literatur, bis seine angeschlagene Gesundheit ihn zwingt, auch diese Stellung aufzugeben. Immer fühlt er sich im Schatten seiner dominanten Frau. Und das tut der Ehe natürlich nicht gut. In den ersten Jahren ihrer Gemeinschaft hatte Eva zu Ottfried aufgeblickt wie zu einem Höheren Wesen: Er war der feingeistige Aristokrat, der erfolgsverwöhnte Schriftsteller, der stets beschäftigte, im Leben stehende Mann, der mit starker Hand das Schicksal der Seinen lenkte. Jetzt ist er ein Gutsherr ohne Land, eine gescheiterte Existenz, als Familienversorger unbrauchbar und als Autor schon zu Lebzeiten vergessen. Eva, die im Lebenskampf hart und unbeugsam geworden ist, hat für diesen Mann bald nur noch Verachtung übrig. Sie verbeißt sich in die Arbeit, ist kaum noch zu Hause. Er tröstet sich mit ausgedehnten Bridgepartien und ab und zu mit einer kleinen Schwärmerei. Eine Scheidung wird nicht in Erwägung gezogen.

 Der Lebensabend des ungleichen Paares zieht sich noch über Jahrzehnte hin: Ottfried wird 86 Jahre alt, seine Frau Eva gar über neunzig. Bis zuletzt bleiben die beiden in Kanada wohnen, wo sich auch vier von ihren fünf Kindern angesiedelt haben. Geduldig ertragen sie Tag für Tag ihre selbst erschaffene Ehehölle und halten bis zuletzt an einem Lebensstil fest, über den die moderne Zeit schon längst hinweggeschritten ist. „Tagebuch eines Feiglings“ überschreibt Finckenstein seine internen, nie veröffentlichten Memoiren; und er rechnet darin schonungslos mit den eigenen Schwächen und Inkonsequenzen ab. Diese Schwächen hatten ihn dazu gebracht, einem System die Hand zu reichen, das seinen Glauben, seine Begabung und seinen guten Willen missbrauchte.

Hier lag der Kardinalfehler, der den ersten Teil seines Lebens prägte, und im zweiten Teil hat er dafür bitter gebüßt. Seine Tochter Maria nennt ihn ein „Opfer des Nationalsozialismus“, doch damit geht sie wohl ein bisschen weit. Allzu aktiv und allzu bewusst hat ihr Vater sein Schicksal gewählt, um als schuldloses Opfer gelten zu können. Doch zweifellos zählt er zu den tragischen Gestalten, die das ideologiegeladene 20. Jahrhundert in solch furchtbar großer Zahl hervorgebracht hat.

 

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