Luchino Visconti, Björn Andresen

Er war der "schönste Junge der Welt": Björn Andresen wurde 1970 von Lucchino Visconti entdeckt, der ihn in seiner opulenten Thomas-Mann-Verfilmung "Tod in Venedig" als verführerischen Tadzio besetzte. Heute ist er ein einsamer alter Mann und sieht sich selbst als missbrauchtes Opfer.

Das Casting findet im Grandhotel Stockholm statt. Dort residiert Luchino Visconti, der berühmte Meisterregisseur aus Italien, und dorthin bestellt er die Jungen, die sich auf seine Annonce gemeldet haben. Er sucht den Darsteller des Tadzio für die gerade von ihm geplante Thomas-Mann-Verfilmung „Tod in Venedig“, aber das ist nur eine äußerlich nüchterne Umschreibung seiner Intention. Was er wirklich sucht, ist nichts Geringeres als die vollkommene, die ideale Schönheit, ja die Allegorie der Schönheit schlechthin in der Gestalt eines zwölf- bis vierzehnjährigen Knaben.

Keine leichte Aufgabe. Die Welt ist zwar voll von gutaussehenden Jungen, aber die Schönheit Tadzios, wie Thomas Mann sie in Worte fasste und wie Visconti, der Mann des Films, sie visuell heraufbeschwören will, geht weit über gutes Aussehen hinaus. Das Antlitz „bleich und anmutig verschlossen“, die Haut „vom gelblichen Schmelze parischen Marmors“, der „Ausdruck von holdem und göttlichem Ernst“, dazu die „eigentümlich dämmergrauen Augen“ und langes, gelocktes honigfarbenes Haar – das ist eine Beschreibung, geboren aus der Euphorie der Verliebtheit, die das jeweilige Objekt der Begierde zur Vollkommenheit verklärt. Ganze Heerscharen von Lesern hatten sich aus dieser Beschreibung ihr persönliches Traumbild gewoben, doch wie setzt man ein Traumbild in Fleisch und Blut?

Die Aufnahmen des Castings von Stockholm sind erhalten. Was sie zeigen, ist eine ziemlich abstoßende Fleischbeschau. Visconti lässt die eingeladenen Jungen in seinem Hotelzimmer auf und ab gehen, er prüft ihr Lächeln, ihre Augenfarbe, und dann heißt er sie gebieterisch sich ausziehen und mit freiem Oberkörper posieren. Es fehlt bloß noch, dass er ihnen ins Maul schaut. Natürlich sind die Jungen befangen vor dem selbstbewussten Regisseur, sie folgen marionettenhaft den Anweisungen, agieren ungelenk und tapsig, ganz wie es ihrem Lebensalter entspricht. Es sind gewöhnliche schwedische Jungen – was sonst? Die Art Schönheit, die Visconti sucht, bekommt man nicht auf dem Tablett serviert. Sie gleicht einem Rohdiamanten, dessen Wert man in unscheinbarster Gestalt mit professionellem Blick erkennen muss, um ihn dann so kunstvoll zurechtzuschleifen und so präsentabel einzufassen, dass alle Welt diese Erkenntnis teilt.

Auch Björn Andrésen, der schließlich die Rolle bekommt, ist ein gewöhnlicher schwedischer Junge. Auf seinen Kinderfotos wirkt er gänzlich unauffällig; kein Mensch hätte damals in ihm den „schönsten Jungen der Welt“ erahnt, zu dem er durch Visconti werden sollte. Er lebt zusammen mit seiner Schwester bei den Großeltern mütterlicherseits. Sein Vater ist unbekannt, und seine Mutter, die offenbar an Depressionen litt, hat sich das Leben genommen, als er zehn war. Vielleicht rührt von daher eine gewisse unbestimmte Traurigkeit, die er ausstrahlt und die ihn, zumindest in seinen Jugendjahren, mit einer geheimnisvollen Aura umgibt. Björn gilt als bescheidener und kluger Junge, erscheint jedoch etwas farb- und temperamentlos, einer jener Jugendlichen, mit denen der Erwachsene nichts zu reden weiß. Er ist Schüler an der renommierten Adolf-Fredriks-Musikschule in Stockholm, wo er schwerpunktmäßig Klavier- und Gitarrenunterricht erhält. Auch spielt er in einer Schülerband und träumt davon, einmal Musiker zu werden. Doch einen karrieretreibenden Ehrgeiz, einen Antrieb, sich der Welt an den Hals zu werfen, besitzt er nicht und wird er nie besitzen. Seine Großmutter ist es gewesen, die auf Viscontis Annonce reagiert hat. Sie lebt schon länger in der Überzeugung, dass Björn eines Tages ganz groß rauskommen werde. Viscontis Casting ist nicht das erste, zu dem sie ihren Enkel schickt, und er hat auch bereits eine kleine Rolle in einem schwedischen Jugendfilm ergattert.

Visconti findet Björn Andrésen geeignet, allerdings ein bisschen zu groß, wie er sagt, und auch fast schon zu reif für den Tadzio; er wäre fünfzehn, wenn die Dreharbeiten beginnen. Es ist keineswegs so, wie später mitunter, auch von Visconti selbst, verlautet, dass Björn Andrésen kam, sah und siegte. Visconti sucht weiter nach dem idealen Tadzio, denn er weiß, wie entscheidend wichtig die Besetzung gerade dieser Rolle ist. Er sucht in Helsinki, er sucht auch in Polen, denn im Buch wie im Film ist Tadzio polnischer Herkunft, doch je länger er sucht, desto stärker wächst in ihm die Überzeugung, dass er den Richtigen schon gefunden hat. Es ist der Junge aus dem Grandhotel Stockholm. Es ist Björn Andrésen. Mag sein, dass er zu groß ist und zu alt für die Rolle. Aber von ihm geht etwas aus – und Visconti muss das instinktiv gespürt haben –, was ihn zur idealen Besetzung macht.

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