Die Geschichte des Edgar Wibeau ist von der Form her ein sonderbarer Hybrid aus Filmscript, Theaterstück und Prosaerzählung. Es gibt wohl keinen zweiten Stoff in der Geschichte der Literatur, der sich so quecksilbrig schlingernd zwischen den Genres seinen Weg zum Erfolg gebahnt hat.
Diese Unbestimmtheit der Form ist kein Zufall, sondern hängt unmittelbar mit den Bedingungen zusammen, unter denen das Werk entstand. Der Autor Ulrich Plenzdorf sah sich selbst reinen Filmszenaristen an. Er wollte immer Filmtexte schreiben, sonst nichts, ließ er in einem Interview verlauten; alles, was er in anderen Genres verfasste, sei nur deshalb entstanden, weil es sich als Film nicht realisieren ließ. Ein Mann des Films also, der prekärsten, teuersten und abhängigsten aller Künste, und das auch noch in der DDR, dem ideologisch verklemmtesten Land der Welt.
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1968 legte Plenzdorf „Die neuen Leiden des jungen W.“ als Filmexposé der Defa vor, wo er damals als Dramaturg beschäftigt war. Das Exposé wurde selbstredend abgelehnt, und so griff Plenzdorf erneut zur Feder, bereitete den Stoff in Prosa auf und schaffte es tatsächlich, ihn 1972 bei der Zeitschrift „Sinn und Form“ unterzubringen.
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In dieser Fassung lernte ich die Geschichte kennen. Per Flüsterpropaganda hatte sich verbreitet, was für ein „scharfes Ding“ das sei, und so kursierte auch in meinem Studienjahr ein zerlesenes Exemplar der heiß begehrten „Sinn und Form“-Ausgabe. Es waren aber keineswegs nur die politisch „scharfen" Stellen, die uns in Begeisterung versetzten. Im Einzelnen waren kaum scharfe Stellen vorhanden. Dieser Text bezog seine Wirkung nicht aus Kritik oder Protest, sondern durch die ihm eigene Atmosphäre. Er ist zwar aufmüpfig, doch auf eine subtile, indirekte Weise, genauso wie sein Urbild, Goethes „Werther“ aufmüpfig gewesen war: im Sinne der Abwendung von einer erstarrten und verlogenen Gesellschaft, im Sinne des Rückzugs in eine verinnerlichte Welt, wo vorgegebene Normen nicht mehr galten. In der DDR-Literatur war das ein völlig neuer Ton.
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Trotzdem hätte die Veröffentlichung in einer Zeitschrift nicht ausgereicht, die „neuen Leiden“ zu verbreiten. Die Initialzündung für den Durchbruch ging von einem anderen Medium aus, dem Theater, das sich nunmehr des Stoffes annahm. In Halle brachte ein mutiger Intendant die Geschichte in einer wiederum von Plenzdorf erstellten Dramenversion auf die Bühne, und die schlug ein wie eine Bombe. Von weither wallfahrteten die Leute nach Halle, um das Kultstück anzusehen. In der ganzen DDR und auch im Westen wurde es nachgespielt. Ich selbst habe die Hallenser und die Ostberliner Aufführung gesehen, und ich kann nur sagen, diese Abende trugen nachgerade den Charakter von Gesellschaftsfesten, bei denen der DDR-Frust ein Ventil fand. Wenn die Leute laut Edgars Blue-Jeans-Song mitsangen, wenn sie klatschend, raunend und jubelnd jeder Wendung der Story folgten, dann verschwammen die Grenzen zwischen Publikum und Schauspielensemble in einem begeisterten Wir-Gefühl.
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Ja, und auf den Wogen dieses Erfolges kam 1976 schließlich – back to the roots – doch noch der Film. Er kam als dritter Aufguss, als die Luft längst raus war, und er kam aus dem Westen, einer fremden Sphäre jenseits und unkund des Lebensgefühls, aus dem die Geschichte ihren Reiz bezog. Was noch vor wenigen Jahren unsere Herzen höher schlagen ließ, verglomm in einem mittelmäßig-langweiligen Fernsehabend.
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„Die neuen Leiden des jungen W.“ haben ihren Schöpfer Ulrich Plenzdorf zu einem Bestsellerautor gemacht, nicht aber zu einem glücklichen Menschen. Immer wieder hatte er den Stoff an fremde Wünsche angepasst, ihn in die unterschiedlichsten Formen gepresst; und am Ende blieb ihm, genau wie uns, das Gefühl, dass es die wahre, die eigentliche Form für diese Geschichte nicht mehr gab.
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