Boris Djacenko

In den 1950-er Jahren wagte es der Autor Boris Djacenko, die Vergewaltigungen deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten zu thematisieren. Die Literaturszene gab ihm einen Tritt, und sein Freund Erwin Strittmatter ließ ihn fallen. 

Boris Djacenko habe ich nie gelesen, weder die Romane und Erzählungen der Frühzeit noch die Krimis, die er später unter dem Pseudonym „Peter Addams“ schrieb, nachdem seine Karriere als „seriöser Autor“ in der DDR gescheitert war. Die Öffentlichkeit kennt ihn heute nicht mehr, und die Literaturwissenschaftler, die sich von Amts wegen mit ihm befassen, bezeichnen ihn als mittelmäßigen Autoren. Ich muss mich auf dieses Urteil verlassen.

Erwin Strittmatter habe ich natürlich gelesen; an dem kam kein Ex-DDR-Bürger vorbei. Seine Geschichten bedeuteten mir nichts, doch das heißt ja nur, dass ich für seine Art zu schreiben nun mal keinen Nerv besaß. In der Öffentlichkeit ist er selbst zwanzig Jahre nach seinem Tod noch sehr präsent, und die Literaturwissenschaftler, die sich von Amts wegen mit ihm befassen, bezeichnen ihn als erstklassigen Autoren. Ich muss mich auch auf dieses Urteil verlassen.

In den Anfangsjahren der DDR waren die beiden Autoren befreundet: beide jung, beide literarisch erfolgreich und beide glühend überzeugt vom Aufbau des DDR-Sozialismus. Strittmatter veredelte dessen Ideale in Landidyllen wie „Katzgraben“ oder „Tinko“, Djacenko thematisierte in historischen Romanen und Erzählungen die Kriegs- und Nachkriegszeit in Deutschland, wobei er oft auf Ereignisse aus seinem eigenen abenteuerlichen Lebenslauf zurückgriff. Sein größter Erfolg war der Roman „Herz und Asche“, der von einer Widerstandsgruppe im zweiten Weltkrieg handelte.

Aber dann wollte er dem Bestseller einen zweiten Teil folgen lassen, der die Handlung über das Kriegsende hinaustrug; und dabei beging er einen schweren Fauxpas: Er hielt sich an die historische Wahrheit, sprach Tabus an wie Stalins Säuberungen, wie die geistige Enteignung deutscher Wissenschaftler. Vor allem aber thematisierte er die Vergewaltigungen deutscher Frauen durch die russischen Besatzer, und dieser Tabubruch war der heikelste von allen. Zwar wusste jedermann Bescheid, wie die Soldaten der Roten Armee bei Kriegsende in Deutschland gewütet hatten, doch offiziell waren sie die Waffenbrüder, die noblen Befreier vom Faschismus, die sich selbstverständlich durch die Bank grundanständig verhalten hatten und niemals auch nur einer einzigen deutschen Frau zu nahe getreten waren. 

Mit entsprechender Empörung nahm der SED-Parteiapparat die Schilderung Boris Djacenkos auf. „Hier wird die jahrelange Vergewaltigungs-Hetze der westlichen Schmutzpresse unterstützt bzw. bestätigt“, schnaubte ein Gutachter aus der Kulturabteilung des SED-Zentralkomitees. Der bereits laufende Vorabdruck des Romans „Herz und Asche, Teil 2“ in einer Illustrierten wurde abgebrochen, die Druckausgabe unterbunden. Der Erfolgsautor Boris Djacenko wurde über Nacht zum Geächteten, denn auch der DDR-Schriftstellerverband schlug sich natürlich auf die Seite der Partei.

Djacenko verstand nicht, wie ihm geschah: Er war doch für den Sozialismus, er liebte doch die DDR, selbst seine Kritik hatte er in aller Vorsicht und auf der Basis eines grundsätzlichen Einverständnisses mit der SED geübt! Hilfe suchend wandte er sich an seinen guten Kumpel Erwin Strittmatter und drückte ihm das Manuskript in die Hand.

Der aber war weit davon entfernt, einem literarischen Outlaw zu helfen. Strittmatter stand immer nur auf einer Seite: derjenigen, die die Macht besaßen. Als junger Mann gehörte er dem berüchtigten „SS-Polizei-Gebirgsjägerregiment 18“ an, das direkt der Waffen-SS unterstellt und in vielen von den Nazis besetzten Ländern in Kriegsverbrechen involviert war. Ob Strittmatter dort wirklich nur als harmloser Schreiber und Archivar gearbeitet hat, wie er selbst später behauptete, lässt sich heute nicht mehr klären; doch fest steht, dass er mehrere Ausbildungen zur Partisanenbekämpfung absolvierte und auch durch seine Bürotätigkeit bestens über die mörderischen Einsätze der Ordnungspolizei informiert war.

Erwin Strittmatter als Redner  auf der 1. Bitterfelder Konferenz 1959

Als in Ostdeutschland die Kommunisten an die Macht kamen, schwenkte Strittmatter zum Sozialismus um. Er wurde SED-Mitglied und 1. Sekretär des Schriftstellerverbandes. Unter dem Decknamen „GI Dollgow“ lieferte er der Staatssicherheit Informationen über Schriftstellerkollegen. Auch die Wende verkraftete er nahtlos. Menschen wie er wissen sehr genau, wo und wie sie sich zu positionieren haben.

Das wusste Strittmatter auch nach Boris Djacenkos Hilferuf. Er las dessen Manuskript und gab sich tief erschüttert über das menschliche und künstlerische „Versagen“ seines ehemaligen Freundes. Am Roman ließ er kein gutes Haar: Kolportage, Schwulst, objektivierende Philosophie. „Sei froh, dass das Buch aus (übrigens berechtigten) ideologischen Gründen gestoppt wurde“, ließ er Boris Djacenko wissen. „Du hättest dich mit ihm künstlerisch blamiert.“

Wieder verstand Djacenko nicht, wie ihm geschah: Erst anderthalb Jahre zuvor hatte Strittmatter die erste Hälfte des Romans gelesen und in den höchsten Tönen gelobt! Djacenko war tatsächlich zu naiv für die Spielregeln der sozialistischen Welt. Statt ideologische Selbstkritik zu üben, wie es die Partei verlangte, kämpfte er wie ein Löwe um sein Buch, rannte jahrelang an gegen die Zensur und gegen den verbohrten Parteiapparat und musste am Ende doch resignieren. Um zu überleben, warf er sich auf Krimis. Er schrieb auch weiter Stücke und Geschichten, doch niemals fasste er wieder Tritt im literarischen Leben der DDR. In seinen letzten Lebensjahren soll er exzessiv getrunken haben. 1975 starb er, allein, verwahrlost, schon zu Lebzeiten vergessen.

Erwin Strittmatter wurde einer der großen alten Männer in der DDR-Literatur. Sein größter Erfolg, die Trilogie „Der Laden“, enthält auch eine Vergewaltigungsszene, ähnlich derjenigen, die Boris Djacenko einst die Karriere gekostet hatte. Inzwischen war die Zeit für den Tabubruch reif, so dass der Tabubrecher nur noch als mutig und nicht mehr als Nestbeschmutzer galt. Der Sieger nimmt alles: die Ehrungen der Mächtigen wie auch das Heldentum der Aufmüpfigkeit.

Erwin Strittmatter hat offensichtlich bessere Sätze gedrechselt als Boris Djacenko; deshalb hat er überlebt, während Djacenko vergessen ist. So sehen es die Literaturwissenschaftler, die sich von Amts wegen mit den beiden befassen, und ich muss mich auf ihr Urteil verlassen. Die Literaturgeschichte fragt nicht, wer ein Schwein war und wer ein aufrichtiger Mensch. Sie fragt nur nach literarischer Qualität – so heißt es, und damit könnte ich leben. Doch gerade die Geschichte Djacenkos und Strittmatters nährt den Verdacht, dass selbst die sogenannte große Literatur nicht nur vom Drechseln guter Sätze abhängt, sondern auch von der ganz profanen pragmatischen Lebenstüchigkeit.

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