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Sylt hat beim Normalbürger einen schlechten Ruf: Reicheninsel, Promi-Ghetto. Ja, es ist was dran. Doch ein Wochenende auf Sylt ist trotzdem interessant, denn es zeigt nicht nur die Schatten-, sondern auch die Sonnenseiten des Eilands: eine unstreitig schöne Landschaft und erstaunliche große und kleine Geschichten.
Sylt ist verrufen: als Oase der Reichen und Schönen, als die Insel mit den saftigsten Grundstückspreisen, als ein exklusives Fleckchen Erde, wo man als normaler Mensch unmöglich Urlaub machen kann. Mag sein, aber wir wollen die Insel nicht mit solchen Vorurteilen betreten.
Wir wollen so tun, als sei dies eine Urlaubsregion wie jede andere. Und die landschaftlichen Reize sind ja nicht zu leugnen, auch wenn sie sich vielleicht nicht so gravierend von denen anderer Nordseeinseln unterscheiden: ein wunderbar breiter und heller Sandstrand, den man stundenlang ungehindert ablaufen kann; eine klug geschützte Dünen- und Heidelandschaft, die Raum für seltene Pflanzen und Tiere bietet; und dazu noch solche Perlen wie das Morsum-Kliff, das hinter jeder Biegung neue imposante Ausblicke bietet. Das alles lädt zu stundenlangen Wanderungen, zum Entdecken und Genießen ein.
Wenn bloß die menschlichen Behausungen nicht wären! Da ist beispielsweise Westerland, die Hauptstadt der Insel. Einst soll es ein zauberhaftes kleines Seebad mit hübschen Jugendstilhäusern gewesen sein. Doch diese wurden in den 1960er Jahren kulturbarbarisch abgerissen, um gesichtslosen Betonbunkern Platz zu machen. Das ganze Zentrum besteht aus zwei Einkaufsmeilen und einem Kurhaus, wo angejahrte Ehepaare vor einer muschelförmigen Bühne sitzen und den Klängen altertümlicher Schlager lauschen.
Noch übler sieht es aus, wenn man sich tatsächlich den Ghettos der Reichen und Schönen nähert, was nicht immer vermeidbar ist. Ein Spaziergang durch Kampen etwa ist eine niederschmetternde Erfahrung. Hier wird der Hausbau durch eine strenge Bauordnung geregelt, die kaum individuelle Spielräume lässt. So herrscht die Vorschrift, dass alle Häuser mit Reetdächern ausgestattet sein müssen. Dadurch wird die ohnehin schon beträchtliche Millionärsdichte noch erhöht, denn ein Reetdach verschlingt sechsstellige Summen und muss, zumindest auf der Wetterseite, alle dreißig Jahre erneuert werden. An sich sind diese Reetdächer höchst malerisch und wunderschön anzusehen. Doch auch der Schönheit wird man überdrüssig, wenn sie derart uniformiert ist wie hier. Es ist so langweilig, endlos lange Straßen zu durchwandern, in denen kaum je ein Mensch sich zeigt und in denen alle Häuser gleich aussehen. Jedes ist aus dunkelroten Ziegeln, jedes hat ein Reetdach und eine steinerne Mauer, einen sogenannten „Ostfriesenwall“ im Vorgarten, und jedes sagt nur eines aus: Seht her, hier wohnen Menschen, die sich ein Haus in Kampen leisten können. Ist das bisschen Prestige es wirklich wert, sich in einem derart öden Ghetto zu verschanzen? Dass sich Menschen freiwillig so kasernieren und dafür auch noch ein Vermögen zahlen, ist für den Normalbürger schwer zu begreifen.
Schon heute zeigen sich die Folgen der Anziehung, die Sylt auf die Betuchten ausübt: Häuser von alteingesessenen Insulanern werden nicht mehr an deren Kinder vererbt, da sie ihre Miterben nicht auszahlen können, sondern an zahlungskräftige Investoren verkauft. Die Arbeitskräfte auf der Insel werden knapp. Verkäuferinnen, Kellner und Putzfrauen kommen frühmorgens vom Festland herüber, wo die Wohnungen noch erschwinglich sind, und fahren abends wieder dorthin zurück. Sylt hat eine höchst ungesunde Infrastruktur, die für die Zukunft gravierende Probleme bereit hält. Irgendwann werden die Reichen und Schönen Mühe haben, jemanden zu finden, der ihnen die Kotze wegwischt.
Doch vorläufig herrscht allenthalben reger Betrieb. Die Kneipendichte ist berühmt, und auch wir haben sehr gut gegessen auf Sylt, im berühmten „Sansibar“ und im erst kürzlich neu eröffneten Fischrestaurant von Jürgen Gosch, der gleichfalls zu den Insel-Legenden zählt: Jeder hier kennt die Geschichte vom arbeitslosen Maurer, der jahrelang in einem Bauchladen gebratene Makrelen verkaufte, bis er sich schließlich die Eröffnung eines eigenen Imbissbude leisten konnte; und aus diesen bescheidenen Anfängen ging ein Selbstbedienungsrestaurant hervor, dem weitere folgten, bis der einstige Maurer eine ganze Restaurantkette besaß und zu Deutschlands erfolgreichsten Gastronomen zählte. Wir essen an einem Samstag bei Gosch, und es herrscht ein derartiger Hochbetrieb, dass trotz der riesigen Dimensionen des Lokals kaum ein freier Tisch zu finden ist. Der Laden muss eine Goldgrube sein, und wenn das Selbstbedienungskonzept auch nicht Jedermanns Sache ist, so schmeckt der fangfrische, zarte Fisch doch äußerst lecker. Wie fast jeden Abend ist auch der Besitzer höchstselbst zugegen. Kindlich stolz auf sein Imperium, läuft er geschäftig von Tisch zu Tisch, mischt sich hier ins Gespräch, spendiert dort ein Fläschchen Wein, strahlt wie ein Weihnachtsbaum, wenn jemand ihn lobt, und rastet aus bei jeder kleinsten Kritik.
Streiflichter wie dieses sind es, die der Insel jenseits des Reichen-Images ein individuelles Gepräge verleihen und ein Wochenende auf Sylt zu einem interessanten Erlebnis werden lassen. Wir sind zufrieden, dass wir das alles einmal im Leben gesehen haben, aber wir sind uns auch darin einig, dass es kein zweites Mal geben muss. An der trauten Ostsee ist es doch viel schöner.
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