Im Sommer 1929 kam Thomas Mann, gerade frisch gekürter Literatur-Nobelpreisträger, auf eine abwegige Idee: Er ließ sich ein Ferienhaus in Nida an der Kurischen Nehrung bauen, mehr als tausend Kilometer von seinem Heimatort München entfernt.
Schon seit Jahren hatte sich Thomas Mann ein Sommerhaus an der Ostsee gewünscht, das ihm während der schönen Jahreszeit ein zweites Zuhause in der Nähe des geliebten Meeres bot. Sooft er an der Ostsee weilte, hielt er prüfend danach Ausschau, doch lange fand er keinen geeigneten Platz.
Bald war ihm die Region zu überlaufen, oder sie war schon literarisch besetzt – wie etwa Hiddensee, das zeitweise in Betracht gezogen wurde. Aber dort residierte Gerhart Hauptmann und ließ für einen zweiten Literaturgott keinen Raum. Thomas Mann wollte, wie bei der Wahl seiner Stoffe, auch bei der Wahl seiner Feriengestaltung etwas ganz Besonderes und Exklusives.
1929 verbrachte er den Sommer mit seiner Familie im Kurort Rauschen nahe Königsberg an der samländischen Ostseeküste; heute heißt er Svetlogorsk und liegt in der russischen Exklave um Kaliningrad. Thomas Mann war von Rauschen wenig angetan: „ein ziemlich triviales Ostseebad, wie es viele gibt“. Doch am Ende seines Aufenthaltes schlugen ihm die Königsberger Honoratioren, die ihn zu einem Vortrag geladen hatten, einen Ausflug nach Nida vor, und der erwies sich als Volltreffer in mehrfacher Hinsicht.
Nida liegt in der Mitte der Kurischen Nehrung, ein großes Dorf, das sich von der Haffseite bis zum Ostseestrand erstreckt. Damals hieß es im Deutschen „Nidden“ und gehörte zum sogenannten Memelland, das im Ergebnis des Ersten Weltkriegs etabliert worden war. Seit 1923 stand es unter litauischer Verwaltung. Die Bewohner waren hauptsächlich kurische Fischer, aber auch Litauer, Polen und Deutsche. Die Hauptattraktion des Ortes bildete die sogenannte Parnidis-Düne, eine riesige Wanderdüne, mit etwa 52 Metern die zweithöchste in ganz Europa. Schon mehrmals im Laufe der Jahrhunderte hatte sie das Dorf komplett zugeschüttet, so dass die Bewohner gezwungen waren, es an anderer Stelle neu zu errichten. Man nannte den Strand eine „Sahara des Nordens“.
Kulturell gesehen war Nida keineswegs eine Wüste. Um die Jahrhundertwende hatte sich dort eine kleine, aber exquisite Künstlerkolonie gebildet, hauptsächlich Vertreter des Expressionismus, aber auch lokale Tier- und Landschaftsmaler. Hermann Blode, Hotelier und Kunstenthusiast, gab ihnen ein komfortables Domizil. Er hatte sein Hotel um Ateliers erweitert und hing im Speisesaal die dort entstandenen Bilder auf, die er den Sommergästen zum Verkauf anbot. Auch sammelte er selbst expressionistische Werke und hatte sich im Laufe der Jahre eine Kunstsammlung zu Eigen gemacht, die zu den reichsten Europas zählte. Lovis Corinth, Karl Schmidt-Rottluff und Max Pechstein sind nur die prominentesten der Künstler, die von Blode beherbergt und gefördert wurden. Die wenigsten von ihnen lebten ganzjährig in Nida, doch im Sommer kamen sie gern hierher, um in der herrlichen Umgebung ihre Bildmotive zu finden und um auf Blodes „Künstlerveranda“ mit Kollegen über Malerei zu debattieren. Die Kunstakademie Königsberg vergab alljährlich an begabte Studenten sogenannte Blode-Stipendien, die mit einem kostenlosen Aufenthalt in Blodes Hotel verbunden waren.
Auch Thomas Mann stieg natürlich bei Blode ab, als er 1929 zum ersten Mal nach Nida kam. Heute ist der Ort nur noch per Auto oder Yacht erreichbar, aber damals gab es dort einen richtigen Hafen mit einer neu erbauten Mole, wo auch größere Ostseedampfer anlegen konnten. Auf einem solchen fuhren Thomas und Katia Mann mit ihren beiden jüngsten Kindern aus Cranz, dem heutigen Selenogradsk, nach Nida, wo man sie voller Hoffnung empfing. Man wollte Nida als Badeort ausbauen und bemühte sich aktiv um Touristen. Thomas Mann, der gerade für die „Buddenbrooks“ den Literatur-Nobelpreis erhalten hatte, erschien da als hochwillkommener Multiplikator. Und die Manns wiederum waren auf Anhieb hingerissen von der Schönheit Nidas. Auf der Seeseite war die Landschaft weiß, fahl und grandios wüstenhaft, doch am Haff, wo das Hotel Blode lag, gab es wunderschöne Uferwege mit Schwänen, die im Schilf nisteten, und mit malerischen Fischerhütten vor dem Hintergrund einer tiefblauen, fast italienisch anmutenden See. Unweit befand sich sogar ein Elchwald, wo man die riesigen Tiere auf freier Wildbahn beobachten konnte – eine Rarität in ganz Europa. Das war alles andere als ein triviales Ostseebad. Das war der Ort, den Thomas Mann schon so lange suchte, der Ort seines künftigen Sommerhauses.
In praktischer Hinsicht erscheint diese Wahl schon etwas abwegig-abenteuerlich. Nida lag mehr als 1.200 Kilometer von München entfernt. Allein die Zugfahrt quer durch Osteuropa bis Cranz nahm etwa anderthalb Tage in Anspruch; dazu kam eine dreistündige Dampferfahrt mit einer Linie, die nicht eben häufig verkehrte. Für die Einreise nach Litauen benötigte man sogar ein Visum. Nida musste erklommen werden wie ein Berg – es hätte Dutzende von Ostseebädern gegeben, die in bequemerer Reichweite lagen. Doch Thomas Mann hatte sich verliebt, und er wollte heiraten, auf der Stelle. Ganze vier Tage hielt er sich bei diesem ersten Besuch in Nida auf, doch diese Zeit genügte ihm, um sein Bauprojekt auf die Beine zu stellen. Er fand eine schön gelegene Anhöhe, den sogenannten Schwiegermutterberg, der für den Bau eines Hauses geeignet schien, er schloss, unterstützt von seinen neuen Bekannten in der Nidaer Künstlerkolonie, einen Pachtvertrag mit den litauischen Behörden – für 99 Jahre, er ist jetzt noch gültig –, und er heuerte aus dem nahen Memel, dem heutigen Klaipeda, einen jungen Architekten an, der den Auftrag erhielt, das Sommerhaus zur nächsten Saison fertig aufzubauen.
Die Ortsväter von Nida rieben sich die Hände – ein waschechter Nobelpreisträger in den bescheidenen Mauern ihres Dorfes, und er wollte sich dauerhaft hier niederlassen! Was für ein Prestigegewinn für den heranblühenden Tourismus! Jetzt würde sich zu den landschaftlichen Reizen, die ihr Heimatort quasi von Natur aus besaß, noch die höhere Weihe des Geistes gesellen, und Nida würde in ganz Europa als Stätte hohen literarischen Schaffens bekannt! Beflissen kam man den Wünschen des Genius entgegen, erteilte ihm bereitwillig die notwendigen Urkunden, Stempel, Genehmigungen, schnell, nur schnell musste alles gehen, damit es sich der Meister ja nicht anders überlegte. „Als wir abreisten“, schreibt Thomas Mann in dem Essay „Mein Sommerhaus“, „hatten wir uns soweit gebunden, dass wir nicht mehr zurückgekonnt hätten, selbst wenn wir gewollt hätten.“
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