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Im nordfranzösischen Verdun fand eine der längsten und blutigsten Schlachten des Ersten Weltkriegs statt. Es entstand eine riesige Gedenkstätte mit Museen, Mahnmalen und weiten Grabfeldern. Doch wer denkt heute noch an ein Grauen, das anderswo längst übertroffen wurde?
Wir waren im Auto unterwegs nach Paris, wollten aber nicht durchfahren, sondern am Weg noch irgendetwas Sehenswertes mitnehmen. Verdun war keineswegs geplant, doch als das Ortsschild in Sicht kam, beschlossen wir spontan, uns die Gedenkstätte der berühmtesten Schlacht des Ersten Weltkriegs anzusehen. Sie lag außerhalb der Stadt und war nicht sonderlich gut ausgeschildert. Doch als wir nach einer kleinen Irrfahrt endlich unser Ziel erreichten, waren wir beeindruckt von der Größe, ja Gigantomanie der Anlage.
„Gedenkstätte“ ist dafür ein viel zu schwaches Wort; es war ein ganzer Park voller Gedenkstätten, ein riesiger Komplex von Museen, Mahnmalen, Friedhöfen und historischen Gebäuden.
Über Stunden wanderten wir auf dem ehemaligen Schlachtfeld umher. Wir irrten durch eine alte Festung. Wir verloren uns in der gewaltigen Halle des Memorials. Wir besichtigten die Bäckerei eines halb verschütteten Dorfes. Wir schritten lange Reihen von Grabkreuzen ab. Hier war es. Hier haben Hunderttausende von deutschen und französischen Soldaten die Hölle auf Erden durchlebt. Hier standen sie in den Schützengräben, bis zu den Bäuchen in fauligem Wasser. Hier wimmerten sie nach ihren Müttern, während rings die Granaten einschlugen. Hier husteten sie in Notlazaretten stückweise ihre Lungen aus. Hier wurden ihre Körper ins Beinhaus getragen, oft so zerfetzt, dass man nicht mehr erkennen konnte, ob sie Franzosen oder Deutsche waren. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte hatte es ein solches Grauen gegeben, ein solches Übermaß an menschlichem Leid wie auf dem Schlachtfeld von Verdun.
Das muss der Grundgedanke gewesen sein, als man diese Gedenkstätte plante und baute: Etwas derart Monströses war in der Geschichte noch nie vorgefallen, und es würde auch niemals mehr vorfallen. Verdun als unerreichtes Jahrhundertmal des Schreckens – das ist das Konzept, das sich auf Schritt und Tritt durch die gewaltige Anlage zieht. Sie wurde gebaut, als das 20. Jahrhundert noch jung war und erneuerbar schien. Wer konnte damals ahnen, dass Verdun nur ein kleiner Auftakt der Gräuel war, die dieses Jahrhundert bereit hielt? Wer konnte ahnen, dass diese Todesstätte binnen weniger Jahrzehnte nur mehr eine von vielen sein würde, die das gebeutelte Europa zu bieten hatte? Die Krematorien von Auschwitz, die Lager von Sibirien, der Mamajew-Hügel von Stalingrad, das Donauufer von Novy Sad, der Wald von Katyn, die Kirche von Oradour – überall ist blutgetränkte Erde, überall haben Menschen Unsagbares durchlitten. Wollte man an jedem dieser Orte ein Memorial errichten wie in Verdun, man käme mit dem Bauen nicht mehr hinterher.
Nur noch eine Handvoll Besucher verläuft sich heute in den riesigen Museumshallen von Verdun. Es gibt einfach zuviel Auswahl für den Kriegstourismus. Was ist schon Verdun? Nur ein Schlachtfeld von vielen und noch nicht einmal das schlimmste. Tage später kamen wir in Paris mit einem älteren Franzosen ins Gespräch. Er war Deutschlehrer von Beruf, ein kultivierter, gebildeter Mann. Wir erwähnten gesprächsweise, dass wir gerade in Verdun gewesen waren. „Was, Verdun?“, fragte er, ganz erstaunt, dass wir uns von all den Sehenswürdigkeiten, die sein schönes Heimatland bot, gerade diese ausgesucht hatten. „Warum sehen Sie sich das an? Ich bin da nie gewesen.“
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