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Hiddensee ist eine Insel für Alternative und Anspruchsvolle: Neben landschaftlicher Schönheit bietet sie auch viel Kultur - vielleicht sogar ein bisschen zuviel.
Eine Touristeninsel ist üblicherweise kein Ort, an dem man geistige Genüsse erwartet. Die Gastgeber scheinen als Zielgruppe nur eine hirnlose Masse zu vermuten, die vom Urlaub nichts als Sonne, Sex und Saufen verlangt. Also besteht die Beschallung aus dumpfbackigen Schlagern, des Abends hat man lediglich die Wahl zwischen Biergarten und Teenie-Disko, und das einzige Kino am Badeort spielt zweimal pro Woche Rambo 5. Wenn Ihr Herz nach Höherem verlangt, wenn Sie auch im Urlaub nicht auf niveauvolle Gesellschaft und gepflegte Unterhaltung verzichten wollen, dann sind Sie ein Fall für Hiddensee – das ist eine Insel, die landschaftliche Schönheit mit höchstem kulturellen Anspruch paart.
Statt des üblichen Ballermann-Klientels bevölkern sanfte Alternative die Insel: Jeder hier wirkt wie eingeweiht in eine ganz besondere Welt. Oftmals wird man von wildfremden Menschen im Vorübergehen gegrüßt, mit jenem Blick, der suggeriert: Wir Eingeweihten gehören zusammen und haben uns alle ganz doll lieb. Man sieht viele allein reisende Damen aller Altersklassen. Man sieht einträchtig radelnde Ehepaare. Man sieht Schatzsucher am Strand nach Bernstein wühlen. Man sieht verträumte Einzelgänger mit teuren Fotoapparaten, die in profihafter Attitüde Vögel und Pflanzen ablichten. Und man sieht immer wieder Gruppen, die irgendetwas Löbliches unternehmen.
Schon frühmorgens treten naturverbundene Damen, ausgerüstet mit Rucksäcken und festem Schuhwerk, zur Kräuterwanderung in der Düne an oder suchen im Qui-Gong-Kurs ihre geistige Mitte. An den Nachmittagen stehen Insel- oder Museumsführungen auf dem Programm, und der Abend hält ein ebenso reiches wie anspruchsvolles Kulturangebot bereit. Das Zeltkino in Vitte bietet meist gleich zwei Vorstellungen pro Tag, doch keine einzige bewegt sich auf plattem Rambo5-Niveau. Es ist das, was man anderswo ein „Programmkino“ nennen würde, und zeigt eine kluge Auswahl von Spielfilmen und Dokus aus dem gehobenen Kultursegment. Aber das ist noch längst nicht alles. Obwohl wir Hiddensee in der Nachsaison bereisen, finden wir einen prallvollen Veranstaltungskalender, der uns täglich unter Dutzenden von Aktivitäten wählen lässt: Die Palette reicht vom „Lütt-Matten-Treff“ für die Kinder anspruchsvoller Eltern über Kursprogramme, in denen man Gitarre spielen, Seemannsknoten knüpfen oder Bernstein schleifen lernt, bis hin zu Vorträgen mit Titeln wie „Die Managerkrankheit“ oder „Grönland auf den ersten Blick“; und alle diese Veranstaltungen sind erstaunlich gut besucht. Selbst die Souvenirläden auf Hiddensee führen geschmackvollere Artikel, als sie an anderen Küsten geboten werden.
Besonders präsent ist die Kunst- und Literaturszene. Hiddensee kann etliche Berühmtheiten aus diesem Bereich für sich reklamieren: Gerhart Hauptmann, Asta Nielsen, Walter Felsenstein und Henni Lehmann besaßen hier stattliche Ferienhäuser; andere mieteten sich Sommer für Sommer in die Hotels der Insel ein und bildeten eine elitäre kleine Künstlerkolonie. Hiddensee war das Sylt der 1920er Jahre, ein Status, von dem man heute noch zehrt. Der kleine Inselfriedhof weist etliche Prominentengräber auf. Der Ruhm dieser Künstler mag anderswo verblasst sein, doch auf Hiddensee wird er hochgehalten und in Lesungen oder Führungen immer neu thematisiert.
Als wir eintreffen, hat gerade die „Asta-Nielsen-Woche“ begonnen. Das Zeltkino zeigt Asta-Nielsen-Filme, ein „Kammertrio“ spielt Musik aus ihrer großen Babelsberger Zeit, und die Autorin Renate Seydel stellt ihr neues Buch über die Diva vor. Es gibt sogar ein Kinderprogramm, das sich mit Asta Nielsen befasst. Wer hätte gedacht, dass man das Leben eines halb vergessenen Stummfilmstars so vielfältig beleuchten kann! Wir versuchen, an einer der Führungen durch das Asta-Nielsen-Haus teilzunehmen – keine Chance, sie ist schon ausgebucht. Auch auf eine Musikshow mit dem Akkordeonspieler Tobias Morgenstern und seiner Band müssen wir leider verzichten: Als wir uns anmelden wollen, gibt es keine einzige Karte mehr. Zuzeiten kommen wir uns hier vor wie auf einem angesagten Kulturfestival.
Trotzdem entdecken wir unverhofft noch eine kleine kulturelle Perle: Im Gerhart-Hauptmann-Haus läuft Walter Felsensteins Inszenierung von Verdis „Othello“, eine DDR-Fernsehproduktion aus dem Jahre 1969 mit dem unvergessenen Hans Nocker in der Titelrolle. Das Werk ist eine absolute Rarität aus dem Besitz der Felsenstein-Erben, die aufgrund ihrer guten Beziehungen zu den Betreibern des Hauptmann-Hauses gnädigerweise die Aufführung erlaubten. Wir waren nur kühl interessehalber hergekommen und hatten uns nicht allzu viel vom Ausgraben der Uraltplotte versprochen. Doch dann sind wir erstaunt über die tragische Wucht, die Felsensteins Inszenierung ausstrahlt, ungeachtet der verflossenen Jahrzehnte und des gewandelten Zeitgeschmacks. Das war noch Oper ohne Mätzchen, Oper, die eine Handlung ernst nimmt, statt sie krampfhaft gegen den Strich zu bürsten, die ganz auf die Kraft der Musik und die Kunst der Sängerdarsteller vertraut, um einfach eine packende Geschichte zu erzählen. Als Desdemona ihr todtrauriges Weidelied singt, fängt eine Dame neben uns zu weinen an und schluchzt dann gleich durch bis zum bitteren Ende. Welcher heutige Opernregisseur könnte so etwas noch erreichen!
Doch Hiddensees Kulturanspruch ist keineswegs auf die Bewahrung einer glorreichen Vergangenheit beschränkt: Erst vor Kurzem hat Lutz Seiler mit seinem Erfolgsroman „Kruso“ das Augenmerk der literarischen Welt erneut auf diese Insel gelenkt und ihr damit weitere Ströme gehobener Kulturtouristen zugeführt. Nun braucht sich die Gastwirtschaft „Zum Klausner“, obgleich etwas abseits vom Schuss gelegen, um Kundschaft keine Sorgen mehr zu machen. „Schauplatz des Romans ‚Kruso’, hier erhältlich“ verkündet gleich am Eingang ein Schild den zahlreich herbeiströmenden Gästen, während die Kellner ähnlich geschäftig zwischen Tischen und Tresen hin- und hereilen wie zu der Zeit, die der Roman beschwört.
Natürlich wird auch „Kruso“ von den unermüdlichen Kulturführern der Insel dankbar aufgegriffen und zum Gegenstand literarischer Veranstaltungen auserwählt. Eine von ihnen ist Ute Fritsch, Kleinverlegerin aus Berlin, die schon seit Jahren ihre Sommer auf der Insel verbringt und fast jeden Tag eine Veranstaltung durchführt. In einer „literarischen Wanderung“ führt sie uns „auf den Spuren von Kruso & Co.“ hinauf zum „Klausner“, wo wir bei Kaffee und Kuchen alles über die Hintergründe des Kruso-Romans erfahren. Ute Fritsch trägt einen Rucksack voller Bücher auf dem Rücken und erzählt, ihre Rede ständig mit Zitaten untermauernd, von Aljoscha Rompe, Krusos Urbild, der nach der Wende tragisch scheiterte und auf dem Inselfriedhof begraben liegt, von dessen Vater Robert Rompe, der hier unweit ein Forschungsinstitut betrieb, und von der alternativen DDR-Musikszene, die auf dieser Insel einen kleinen Freiraum für ihre Art zu leben fand.
Die durch „Kruso“ angefachte Legende, dass Hiddensee zur DDR-Zeit eine Oase der Aussteiger und politischen Rebellen gewesen sei, erscheint zwar im Nachhinein ein wenig übertrieben. Aber sicher ist, dass diese Insel, schon weil sie rein geographisch an einem neuralgischen Punkt im DDR-Gefüge lag, einen besonders heiklen Status besaß: als Aussichtspunkt in die verheißungsvolle Freiheit, als Sammelbecken von Fluchtwilligen und als besonders abgetrenntes und folglich auch besonders bewachtes Areal. Heute ist das ein hochbrisantes Geschichtsthema, und Ute Frisch ist keineswegs die einzige, die es vor Ort thematisiert. DDR-Reporte, DDR-Memoiren und DDR-Dokumentationen nehmen in Hiddensees Kulturangebot einen besonders breiten Raum ein. „Das Inselgefühl“ heißt ein Roman, der während unseres Aufenthaltes vorgestellt wird und der selbstverständlich auch wieder größtenteils in der DDR spielt – ein überaus bezeichnender Titel.
Eine Woche lang tauchen wir ein in das Hiddenseer Inselgefühl, wir genießen das Landschafts- und Kulturidyll, erfahren Anregendes und Interessantes. Warum aber sind wir dann heimlich erleichtert, als die Fähre uns wieder heimwärts trägt? Natürlich wollen wir keinen Ballermann-Tourismus. Aber noch ein paar Tage mehr auf Hiddensee, und wir hätten uns gewünscht, in dieser kulturvollen Gutmenschenwelt wenigstens einen einzigen Ballermann zu finden. Und so kehren wir ins richtige Leben zurück mit dem Gefühl, dass Hiddensee bei aller Schönheit doch nicht unsere Insel ist.
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