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Ostalgie, das war in den 1990er Jahren eine spaßige Modewelle. Heute aber wird die Ex-DDR allen Ernstes verklärt und mit einem späten Glorienschein umwoben. In den Augen der Ostalgiker war sie eine heile, übersichtliche Welt, in der es noch soziale Sicherheit, menschliche Wärme und Solidarität gab. Wie ist dieses Phänomen zu erklären?
Ostalgie? Aber das war doch ein Phänomen der frühen 1990er Jahre. Das müsste sich doch längst erledigt haben, nicht nur als abgeebbte Modewelle, sondern auch auf quasi biologischem Weg?
Nein, eben nicht. Im Gegenteil: Je mehr das Bild der DDR in der Vergangenheit verschwimmt, desto schöner, verklärter und entrückter erscheint es in der Erinnerung ihrer ehemaligen Bewohner.
Als 1990 die Einheit kam, blickten die DDR-Bürger euphorisch nach vorn: Endlich eine bunte Warenwelt statt der grauen, immer halbleeren Kaufhallen! Endlich reisen, wohin man wollte! Endlich bunte Zeitschriften mit Promi-Geschichten anstelle der öden ND-Leitartikel! Damals waren es tatsächlich nur die altersschwachen Betonköpfe, die der DDR nachweinten. Für die breite Masse in Ost und West bildete die Ex-DDR nichts als einen hippen Trend, einen Anlass für fröhliche Gesellschaftsspiele. Es gab die Ost-Parties, bei denen man Ragout fin und Soljanka aß, es gab die DDR-Museen, die Trabi-Safaris, den Handel mit Ost-Devotionalien. Doch das alles war nicht als Verklärung der Ex-DDR zu verstehen, sondern im Gegenteil als Genugtuung, sie glücklich überwunden zu haben.
Doch aus dem Spaß ist pathetischer Ernst geworden. Wo immer Ex-DDR-Bürger in Gruppen und Gesellschaften zusammentreffen, findet man unweigerlich die Spezies der Ostalgiker vor, die allen Ernstes in den höchsten Tönen die Vorzüge ihrer verlorenen Heimat preisen: diese wunderbare soziale Sicherheit! Diese Geborgenheit im Wir-Gefühl! Diese Solidarität, mit der man einander half! Damals, oh ja! gab es noch höhere Werte als den schnöden materiellen Komfort und die fatale Orientierung auf Gewinn und Erfolg. Damals konnten wir, in einer warmen Höhle vor den Stürmen der Außenwelt abgeschirmt, den Blick nach innen richten auf die wahren Schätze der Mitmenschlichkeit und der Herzensgüte.
Selbst die Fehler und Mängel, die der DDR-Gesellschaft eigen waren, erscheinen lieb und lustig aus dieser Perspektive. Mit welchem Genuss las man ein Buch, wenn man es nur dank besonderer Beziehungen unter dem Ladentisch bekam! Und wie komisch war die Mauschelei im Untergrund, wenn man seine Datsche ausbauen wollte und die Ziegel dafür nur im Austausch gegen Badezimmerfliesen bekam! Zum Kugeln! Ach ja, die schöne alte Zeit!
Es sind die gleichen Ex-DDR-Bürger, teilweise tatsächlich personell dieselben, die 1990 angeekelt aus der SED austraten, die wutschnaubend die Normannenstraße stürmten, die Helmut Kohl den gigantischsten Wahlerfolg aller Zeiten bescherten. Heute verteidigen sie die DDR mit Vehemenz gegen jede Kritik und sind bereit, alles schönzureden, selbst das, worunter sie gelitten haben. Wie ist eine solche Wandlung möglich? Beim Versuch, dem Phänomen auf den Grund zu gehen, habe ich drei mögliche Ursachen oder Befindlichkeiten ausgemacht, die aber selbstverständlich nicht getrennt existieren, sondern ineinander greifen und sich gegenseitig bestärken.
Da wäre zunächst einmal die allgemein dem Menschen eigene Tendenz, etwas Vergangenes zu verklären. Ein Ehepaar mag viele Jahre in Zank und Unfrieden verleben, doch wenn der Mann gestorben ist, schmückt die Witwe in echter tiefer Trauer sein Grab. Plötzlich hat sie all die hässlichen Szenen vergessen – wie er nachts stockbesoffen heimkam, wie sie ihn im Bett mit einer anderen erwischte, wie sie ständig Scheidungsgedanken hegte – und sich stattdessen in ihrem Innern ein Idealbild von ihm geschaffen, das umso reiner und tröstlicher ist, als er nicht mehr in der Lage ist, es mit den Hässlichkeiten des Alltags zu besudeln. Erstaunlich viele Menschen finden Halt in der Fiktion, dass ihr Leben einmal sinnvoll und schön war. Je unerquicklicher sich ihre Gegenwart gestaltet, desto mehr brauchen sie den Glauben an eine glorreiche Vergangenheit.
Und damit bin ich schon beim zweiten Punkt: der unerquicklichen Gegenwart. Wir sprechen hier von Menschen jenseits der Fünfzig, die ihre besten Zeiten schon hinter sich haben – denn die besten Zeiten sind für die meisten nun einmal die Jugendjahre, die man gern mit dem Beiwort „wild“ versieht. Die Ostalgiker haben eben diese Jahre in der DDR verlebt, so dass zu deren Gunsten allein schon der Kontrast zwischen den besseren und den schlechteren Zeiten spricht. Damals stand man abends vor der Disko Schlange, heute kämpft man mit dem Bandscheibenvorfall. Damals waren die Kinder klein und niedlich, heute sind sie fremdartig rätselhafte Wesen. Und was die Hauptsache ist: Die Welt war damals verständlich, geordnet und übersichtlich. Und heute? Arge Zustände, wohin man blickt: Umweltzerstörung, Kriminalität, Abhörskandale, korrupte Politiker, Heere von Arbeitslosen, Drogentote… Die Übel der Gegenwart sind nicht nur gigantisch, sie sind auch allzeit gegenwärtig. Tagtäglich werden sie von den Medien analysiert und kritisiert, bis ein niederschmetterndes Gesamtbild unserer Gesellschaft entsteht. Was Wunder, wenn gerade ältere, oft gesundheitlich angeschlagene und beruflich beiseite gedrängte Menschen, die sich nicht mehr als Meister der Gegenwart fühlen, in eine grundsätzliche Protesthaltung gegen diese Gesellschaft verfallen und Sehnsucht nach der Vergangenheit entwickeln, nach der Schlichtheit der DDR, nach ihrem bieder-positiven Gesellschaftsbild? Dort gab es keine Kriminalität, zumindest wurde sie nicht publik gemacht. Dort gab es auch keine Arbeitslosen: Jeder, der irgendwo rausgeschmissen wurde, konnte sich „in der Produktion bewähren“. Und korrupte Politiker, die gab es gleich gar nicht – oder hatte man je von solchen Fällen gehört? Der Ostalgiker fühlt echte, tiefe Empörung vor den Abhörpraktiken der NSA – und denkt voller Rührung zurück an die Stasi, die so eifrig ihre teuren Bürger beschützte. Er registriert mit Genugtuung jeden einzelnen Splitter im Auge der Gegenwart – und retuschiert den Balken im Auge der Vergangenheit einfach weg.
Natürlich tut er das auch aus Selbstschutz; und damit komme ich zur dritten Ursache der Ostalgie. Allen Ostalgikern ist gemeinsam, dass sie einen Teil ihres Berufslebens, und zwar oftmals einen recht stattlichen, in der DDR verbrachten. Viele waren auch in der SED engagiert. Ganze Wochenenden verbrachten sie damit, Parteitagsdokumente zu studieren und Referate auszuarbeiten, die der jeweils letzten Honecker-Rede galten. Und jetzt soll das alles überhaupt nichts mehr wert sein? Die DDR-Produktion ein Schrotthaufen, das Politbüro eine Bande von Verbrechern, die SED-Parteitage eine geballte Ansammlung von Lügen? Und all die Arbeit, die man investiert hat, all das Gehirnschmalz, all die inneren Kämpfe? Das darf nicht sinnlos gewesen sein! Dafür muss es eine Erklärung geben, sonst bliebe ja nur noch die Verzweiflung über all die verlorenen Jahre übrig. Und so umgibt man denn die DDR mit einem späten Glorienschein, um die eigene Lebensleistung vor sich selbst nicht diskreditieren zu müssen.
Ich weiß nicht, ob die Ostalgiker eine Gefahr für die heutige Gesellschaft bilden. Eigentlich sind das Leute, die sich nicht outen. Mit ihren Ansichten kommen sie nur dann heraus, wenn sie untereinander sind oder in einer Gruppe die Mehrheit bilden. Ist dies nicht der Fall, so scheuen sie die Konfrontation, denn obwohl sie von der Richtigkeit ihrer Ansichten felsenfest überzeugt sind, spüren sie doch, dass diese einer logischen Argumentation nicht standhalten würden. Trotzdem scheint mir, dass von den Ostalgikern eine destruktive gesellschaftliche Kraft ausgeht und dass zumindest in den östlichen Bundesländern ihr Einfluss weitaus größer ist, als die Öffentlichkeit wahrhaben will. Wir sollten uns auch nicht darauf verlassen, dass sich das Problem bald biologisch löst. Das kann durchaus noch ein bis zwei Jahrzehnte dauern. Wir haben mehrfach in der Geschichte erlebt, wie groß die Macht der Alten ist und wie lange sie längst überlebte Welten in zerstörerischer Weise festhalten können.
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