Mit der "Alexanderplatz-Demo" am 4. November 1989 zeigte das DDR-Volk erstmals Flagge: Hunderttausende bekannten lautstark, dass sie das SED-Regime nicht mehr wollten.

Im Oktober 1989 schien in Ostberlin förmlich die Luft zu vibrieren. Jeder Tag brachte neue Sensationen: Hier sah sich ein vor Kurzem noch allmächtiger Bonze über Nacht aus dem Amt katapultiert, dort wurde ein Politskandal enthüllt, Parteien und Vereine aller Couleur schossen wie Pilze aus dem Boden und erhoben Forderungen, immer neue, immer stürmischere Forderungen, angemahnt mit einer Dringlichkeit, als könnte es morgen schon zu spät sein. Wir dürfen jetzt nicht nachlassen! Das war der Satz, den man in den fiebrigen Debatten jener Tage am häufigsten zu hören bekam. Die dürfen das nicht schaffen, dass es wieder „so wie früher“ wird.

Heute streiten sich die Historiker, von wem die Initiative zu einer zentralen Großkundgebung ausging. Gregor Gysi? Jutta Wachowiak? Bärbel Bohley? Egal, die Idee lag einfach in der Luft. Das DDR-Gesetz gewährte den Bürgern ein Demonstrationsrecht, und wenn dieses Recht auch bisher nur auf dem Papier gestanden hatte, so schlug doch jetzt die Stunde, es einzufordern. Die Kundgebung vom 4. November wurde ordentlich angemeldet und von der Polizei genehmigt. Seit Mitte Oktober kursierte der Termin in den Versammlungen, Arbeitsgruppen, Kneipenrunden, sogar in den DDR-Medien, die gerade erst aus dem Winterschlaf der Bravheit und Linientreue erwachten. Jede Partei und jede Gruppierung, welche Positionen sie auch vertrat, sah hier die Chance, eine breite Plattform für ihre Forderungen zu finden; und das galt übrigens auch für die Vertreter der angeschlagenen SED, die sich in völliger Verkennung der Lage eine Akzeptanz durch die Massen erhofften.

Zu diesem Zeitpunkt stand nicht mehr, wie bei den ersten Kundgebungen Anfang Oktober, die Befürchtung im Raum, die Regierung könnte auf die Demonstranten schließen lassen. Die Demonstration war schließlich offiziell genehmigt und das DDR-Regime bereits in voller Auflösung begriffen. Trotzdem wurde der 4. November von den Organisatoren der Kundgebung nicht ohne Angst erwartet. Es war so neu, so ungeheuerlich, die Massen, die erwartet wurden, die Gewitterschwüle, die über dem Land lag, die sich jeden Moment zu entladen drohte – konnte das gut gehen? Würde nicht der Volkszorn die bisher so friedliche Bewegung verderben? Man ergriff alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen. Ehrenamtliche Ordner wurden engagiert, die kleine Anstecker mit der Aufschrift „Keine Gewalt“ auf ihren Jacken trugen. Und immer wieder wurde den Menschen nachgerade händeringend eingeschärft, sie mögen doch bitte, bitte friedlich und geordnet demonstrieren.

Volksfest und Übung des aufrechten Gangs: die Alexanderplatz-Demo vom 4. November 1989Und dann lief alles ab wie ein großes buntes Volksfest. Aus den Straßen, die zum Alexanderplatz führten, strömten die Menschen mit ihren selbst gebastelten Transparenten und Plakaten, Hunderte, Tausende, Hunderttausende, ganz Ostberlin war auf den Beinen, und die halbe DDR dazu. Man muss schon weit in die deutsche Geschichte zurückgehen, um eine Veranstaltung zu finden, die ähnlich viele Menschen mobilisierte. Eine Million Demonstranten wollen die Organisatoren gezählt haben, eine Zahl, die umstritten ist, zumal nur ein Teil von ihnen den Alexanderplatz überhaupt erreichen und der eigentlichen Kundgebung folgen konnte. Doch die Wucht der politisierten Masse war die eigentliche Sensation dieses Tages.

Noch standen Themen wie die deutsche Wiedervereinigung oder die Auflösung der DDR nicht auf der Tagesordnung. Die meisten Menschen, die am 4. November auf die Straße gingen, wollten einfach eine bessere, eine demokratische DDR. Das Wort „frei“ hatte Hochkonjunktur auf den Plakaten des 4. November: Freie Wahlen, freie Presse, freie Reisen wurden angemahnt. Doch es gab auch sehr spezielle, von Randgruppen erhobene Forderungen, etwa nach der Integration von Behinderten oder nach Einführung der Waldorfschulen.

Ein Punkt aber einte alle Demonstranten: die Ablehnung des SED-Regimes. Es durfte nie mehr „so wie früher“ sein. Die Genossen mussten weg. Das brachten die Demonstranten mit unmissverständlicher Drastik zum Ausdruck – nicht verbiestert und verbittert, sondern mit Urberliner Humor. „Die Karre steckt zu tief im Dreck, die alten Kutscher müssen weg!", skandierten sie, und: „SED passé, das Volk sagt nee!“ Der große Buhmann war Egon Krenz, der erst zwei Wochen zuvor die Macht von Honecker übernommen hatte. Auf den Plakaten der Demonstranten wurde er mit phantasievollen Karikaturen verspottet: bald als „Krenzman“ mit riesigen Fledermausflügeln, bald als böser Wolf, der in der Tarnung einer harmlosen Großmutter die Rotkäppchen-Revolution verschlingen will, oder in Form eines kleinen Gedichtes, das sein Wirken im historischen Jahr 1989 zusammenfasste:

Im Frühjahr Wahlen manipuliert,
im Sommer Peking applaudiert,
im Herbst ein bisschen reformiert,
im Winter hat er ausregiert.

Übel erging es den Kundgebungsrednern, die in den Augen der Demonstranten das verhasste System vertraten. Männer wie Markus Wolf oder Günter Schabowski hatten geglaubt, sich schlau und flexibel in die Revolution integrieren zu können, doch sie wurden als „Wendehälse“ beschimpft und von den Demonstranten gnadenlos ausgebuht und ausgepfiffen. Der Held des Tages war dagegen der hochbetagte Autor Stefan Heym, fast schon eine Galionsfigur des politischen Widerstands in der DDR und von den Massen messiasgleich verehrt. Als er vor das Mikrofon trat und sagte: „Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen!“, wollte der Jubel kein Ende nehmen.

Fünf Tage später fiel die Mauer, die Ostberliner stürzten sich mit ihrem Begrüßungsgeld auf den westlichen Konsum („Ein Volk steht auf und geht zu Bilka“), und auf der politischen Ebene konnte schon bald von einer besseren DDR keine Rede mehr sein: Parteiengezänk und Postengerangel bestimmten den parlamentarischen Alltag – die Wiedervereinigung nahm ihren Lauf: Enteignungen, Abwicklungen, Selbstmorde, Massenarbeitslosigkeit.  Doch der 4. November 1989 blieb im kollektiven Gedächtnis als der letzte Tag, an dem die Revolution noch rein und stark und frei von irdischer Hässlichkeit war. Sie blieb im Gedächtnis als der Durchbruch zur Freiheit, als die erste Übung des aufrechten Gangs, als die würdige Feier eines Volkes, das nach Jahrzehnten des Schweigens und Vertuschens erstmals seine eigene Kraft erkennt.

 

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