Und dann auch noch Corona

Zu alledem kommt dann auch noch Corona – ja, ich weiß, das hätte ich mir denken können. Natürlich wusste ich, dass all die bunten Volksfeste und Weinwochenenden wegfallen würden, die an sich zur Zeit der Lese in dieser Gegend üblich sind. Ich wusste auch, dass man im Klinikprogramm einen Großteil der sonst angebotenen Veranstaltungen gestrichen hatte, dass es beispielsweise keine Ausflüge und keine geführten Wanderungen geben würde. Doch ich war nicht darauf gefasst gewesen, dass Corona den Kurbetrieb derart dominieren würde. Auf dem gesamten Klinikgelände herrscht ein strikter Maskenzwang, und der wird unaufhörlich eingefordert. Überall sind Schilder angebracht, die mahnen, warnen und verbieten. Wehe, wenn irgendeine Nase mal nicht vollständig bedeckt ist! Zwar hat man leider noch keinen Weg gefunden, mit Maske das Essen einzunehmen; aber wer während des Essens aufsteht und mal kurz zum Büffet geht, um sich Salz zu holen, muss die Maske wieder aufsetzen, wenn er nicht angezählt werden will.

Selbst an den Sportgeräten und am Ergometer wird auf die Maske nicht verzichtet, was bei einigen Kurpatienten zu gefährlicher Luftnot führt. Doch an diesem Punkt endet jede Rücksicht und ärztliche Besorgnis. Bricht jemand auf dem Ergometer zusammen, gibt es anscheinend weitaus weniger Ärger als bei Nichteinhaltung der Pandemievorschriften. Schon ein einziger Corona-Fall kann die Einstellung des gesamten Klinikbetriebs zur Folge haben, und die Angst ist so groß, dass der logische Verstand nicht selten auf der Strecke bleibt.

Stopschilder und Verbote in der KlinikEs herrscht absolutes Besuchsverbot. STOP! gebietet ein rotes Schild am Eingang, das es jedem Nichtpatienten streng untersagt, sich dem Klinikbereich auch nur zu nähern. Umgekehrt werden auch die aushäusigen Aktivitäten der Kurpatienten von der Klinikleitung ungern gesehen. Im Einführungsvortrag ermahnt uns der Geschäftsführer, von Ausflügen in die umliegenden Städte nach Möglichkeit abzusehen; stattdessen schlägt er einsame Waldspaziergänge vor. Wir sind gehalten, nicht zu shoppen, nicht auswärts zu essen oder Kaffee zu trinken und keine Bekannten zu kontaktieren. Schon eine einzige aushäusige Übernachtung hat den sofortigen Abbruch der Rehakur zur Folge; und damit das keine leere Drohung bleibt, wird die Anwesenheit permanent kontrolliert: Beim Frühstück muss sich jeder Kurpatient in eine spezielle Liste eintragen, um zu dokumentieren, dass er die Nacht auch wirklich brav in seinem Zimmer verbracht hat. Vergisst ein Kurpatient den Eintrag – was mir mehr als einmal passiert ist –, so überzeugt sich der Pflegedienst mit einem strengen Kontrollanruf, dass der Sünder im Zimmer zugegen ist.

Die Wunschvorstellung besteht anscheinend darin, innerhalb der Klinik einen isolierten coronafreien Raum zu schaffen, den Klinikfremde nicht betreten und Kurpatienten nicht verlassen dürfen. Doch diese Vorstellung ist offenkundig absurd. Fast täglich dringen Neupatienten aus der bösen coronaverseuchten Umwelt in die Klinik ein, und auch die zahlreichen Angestellten dürften sich nach Feierabend wohl kaum in einer keimfreien Zone bewegen. Zwar muss jeder Neuankömmling in mehreren Fragebögen versichern, dass er weder an Husten noch an Schnupfen oder Fieber leidet – was natürlich jeder bereitwillig tut, der in die Klinik aufgenommen werden will –, doch vor echten Infektionen dürfte uns das nur bedingt bewahren. Der Aktionismus regiert, wie hierzulande so oft – man tut etwas, um nicht nichts zu tun.

 

Verbote und Gebote

Nie bin ich bei einer Rehakur mit so vielen Verboten und Geboten belegt worden wie dieses Mal; unmöglich, sie sich alle zu merken. In erster Linie ist es natürlich die Maske, der verhasste Maulkorb, den ich ständig vergesse, bis mich der schockierte Blick eines Kurpatienten daran erinnert. Aber ich vergesse auch andere, für den Kuralltag hochwichtige Dinge. Ich vergesse das Armband, das wir unbedingt zu allen Mahlzeiten tragen sollen. Ich vergesse das sogenannte „Therapietuch“, das wir auf die Sportgeräte zu legen haben, bevor wir unsere virensuspekten Leiber mit ihnen in Kontakt bringen. Ich vergesse, meinen Blutzucker rechtzeitig zu messen. Und jedes Mal gibt es Rügen, Kontrollanrufe und die Ermahnung, beim nächsten Mal „aber bitte wirklich“ daran zu denken. Was bin ich doch für eine schlechte Kurpatientin. Wenn ich uns beim Essen Schlange stehen sehe, alle mit Armbändern und Masken versehen und alle im Abstand von genau 1,50 Meter an den Markierungen stehend, drückt mich ein Gefühl der Entmutigung nieder. Überall herrscht eine deprimierende Bravheit. Eine alte Dame tastet sich mit den Füßen mühsam die Treppe abwärts, weil sie durch ihre Maske die Stufen nicht sieht.

„Ziehen Sie die Maske runter“, sage ich.

„Aber do herinne solle mer se trage!“

„Herrgott, ehe Sie die Treppe runterfallen…!“

Ein andermal platzt mir bei Frühstück der Kragen: Ein gebrechlicher alter Mann hat seine Maske auf dem Zimmer vergessen, und der Kantinenmann befiehlt ihm, noch einmal zurückzugehen und sie zu holen. „Aber warum?“, rufe ich. „Er wird doch gleich essen, da nimmt er sowieso die Maske ab!“

Der Kantinenmann besteht auf seiner Anweisung; doch als der alte Mann gegangen ist, beugt er sich zu mir vor und flüstert: „Ich kann nicht wissen, wie die Patienten denken. Manche denken so, andere so.“ Vertrautes DDR-Gefühl: Alle wahren die Fassade, alle spielen mit, weil keiner weiß, wie der andere denkt.

Ich bin froh, als sich die Reha dem Ende nähert. Mir ist klar, dass ich an dem Flop nicht unschuldig bin: Ich hatte viel zu viele und viel zu hohe Erwartungen mit diesem Aufenthalt verbunden. Wenn ich die schwerkranken Menschen in der Klinik sehe und ihre Leidensgeschichten höre, schäme ich mich, dass ich diese Reha überhaupt beantragt habe. Jenen Kranken kann vielleicht in dieser Klinik geholfen werden; den Bewertungen nach zählt sie durchaus zu den besseren im Lande. Doch ein Routinefall wie ich darf sich nicht wundern, wenn er auch als Routinefall behandelt wird. Vorbei sind die Zeiten, da man eine Reha gewissermaßen aus Luxuxgründen antrat – um sich körperlich und seelisch zu stärken, um eine erholsame Zeit zu erleben, um einen Zustrom an Wissen zu erfahren. Die Reha der Zukunft sieht so aus, wie ich sie in diesen drei Wochen erlebte: zurechtgestutzte Lautlos-Fernseher, kranke Menschen, die mit Armbändern Schlange stehen, und Kontrollanrufe, damit sie auch parieren. Und das hat nichts mit Corona zu tun. Corona verstärkt und verdeutlicht nur die gesellschaftlichen Tendenzen, die ohnehin vorhanden sind – in diesem Fall die Tendenz zur Reglementierung und Kontrolle der Kurpatienten, und die wird sicherlich nicht verschwinden, wenn der Corona-Wahn verschwunden ist. Für mich war dies die letzte Rehakur – zumindest die letzte, die ich gern und freiwillig angetreten habe.

 

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