Von der Beratungsfirma zum Großkonzern

Ich habe selten einen Menschen und eine Arbeit so krass unterschätzt. Das kleine Beratungsunternehmen, das mir so perspektivlos erschienen war, blieb bestehen und zog sich immer neue Aufträge an Land. Es profitierte in erster Linie von den Bausünden der Nachwendezeit: Im ersten Rausch der deutschen Wiedervereinigung waren viel zu viele Krankenhaus- und Seniorenimmobilien teils an völlig falschen Standorten errichtet worden. Um die Jahrtausendwende begannen diese Betriebe massenhaft zu kriseln, so dass der Sanierungs- und demzufolge auch der Beratungsbedarf überraschend groß war. Bald wurde in dem düsteren Prenzelberger Altbau eine zweite Wohnung angemietet, die ausschließlich Bürozwecken diente. Die Zahl der Mitarbeiter wuchs, und Professor Theis bewies mit den Neueinstellungen eine glückliche Hand. Gemeinsam mit zwei fähigen Beratern, die von Anfang an auch finanziell am Unternehmen beteiligt waren, schuf er sich eine kleine Leitungsebene, auf der alle Entscheidungen getroffen wurden. Die beiden jungen Geschäftsführer waren intelligente, ehrgeizige Männer, die Professor Theis wie einen Vater verehrten und zu exzessiver Arbeit bereit waren, um seinen Ansprüchen zu genügen. Doch obwohl sie nahezu rund um die Uhr ohne Freizeit und Wochenende schufteten, war es vor allem das Image des Professors, das dem Unternehmen zum Erfolg verhalf. Sowohl aus seiner Bonner als auch aus seiner Tübinger Zeit war er mit wichtigen Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft bekannt, und sein Titel, seine respektable Vergangenheit und seine tausendfältigen Beziehungen erwiesen sich als unwiderstehliche Türöffner, wenn es galt, einen potenziellen Auftraggeber zu überzeugen.

Den großen Durchbruch aber brachte nicht das Beratungsunternehmen, sondern die Betreibergesellschaft ProCurand, die 1999 eher beiläufig gegründet wurde mit dem Ziel, marode Seniorenimmobilien günstig aufzukaufen, zu sanieren und gewinnbringend wieder zu verkaufen. Doch der Betrieb der Seniorenheime erwies sich als so lukrativ, dass er zum Kerngeschäft des Unternehmens wurde, während die Beratungsgesellschaft zusehends an Bedeutung verlor. Immer neue Seniorenheime gelangten in den Besitz der ProCurand, zunächst vorwiegend in Brandenburg, später bundesweit und sogar grenzüberschreitend.

Längst hatte die Firma ihren Sitz nicht mehr in dem verkeimten Prenzelberger Altbau. Schon 2001 bezog sie eine geräumige Büroetage im Wedding. Und längst war Professor Theis kein schlurfendes altes Männchen mehr, das beim Diktieren ein Nickerchen machte. Unmerklich hatte er sich in einen befehlsgewohnten Seniorchef verwandelt. Er schritt selbstbewusst über die Gänge seines Imperiums und entfaltete eine Autorität, dass alles vor ihm zitterte. Das Unternehmen befand sich mittlerweile in einer Phase schneller Expansion, die gleichfalls sehr viel Arbeit erforderte. Auch jetzt war ich Sonntag für Sonntag, mitunter auch wochentags am Abend im Büro, denn der Professor hatte sich an mich gewöhnt und arbeitete gern mit mir, während die regulären Sekretärinnen froh waren, wenn ich sie der langen und anstrengenden Chefdiktate enthob. In dieser Zeit wurde ich auch oft als Urlaubs- oder Krankheitsvertretung beschäftigt. Die kleine Zweizeilenannonce hatte mich zu einer zuverlässigen Einnahmequelle geführt. Und sie hatte mich direkt in eine große Chefetage katapultiert, in der die Arbeitskräfte längst nicht mehr über Zweizeilenannoncen rekrutiert, sondern unter Hunderten Bewerbern auf das Sorgfältigste ausgewählt wurden.

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