Der Patriarch

Professor Theis war der Prototyp des Patriarchen, wie aus einem Bilderbuch des 19. Jahrhunderts entsprungen. Er war das Gesetz in seinem Imperium und duldete keine Götter neben sich. Worte wie Gewerkschaft oder Mitbestimmung waren für ihn ein rotes Tuch. Er tobte vor Wut, als sich im Unternehmen der erste Betriebsrat gründete. Die damalige Firmenjuristin schilderte mir die tragikomische Szene, die sich zwischen ihr und dem Chef abgespielt hatte: Der alte Herr war außer sich, wollte jeden abmahnen und fristlos entlassen, der sich am Betriebsrat beteiligte, insbesondere die „Rädelsführer“, während die Juristin händeringend zu erklären versuchte, dass leider das Gesetz die Bildung eines Betriebsrates legalisiere… Niemals söhnte sich Professor Theis mit den Betriebsräten aus, doch er lernte, sie gewissermaßen als Gegenspieler in seinen Horizont zu integrieren. Irgendwann schien es ihm sogar Spaß zu machen, ihnen Knüppel zwischen die Beine zu werfen.

Mit seiner Herrschsucht und den damit einhergehenden cholerischen Ausfällen stand er sich häufig selbst im Weg und stieß sowohl Mitarbeiter als auch Kunden und Geschäftspartner vor den Kopf. Schon in der Frühphase des Unternehmens gab es stürmische Kräche und verbissene juristische Auseinandersetzungen. Später überwarf er sich sogar mit seinen beiden treuen Juniorchefs, die das Entstehen des Unternehmens aufopferungsvoll begleitet hatten. Wenn er jemandem seine Sympathie entzog, ließ er ihn ohne Bedenken fallen. Oft staunte ich, wie rasch er Kündigungen aussprach, auch gegen engste, über Jahre eingespielte Mitarbeiter. Waren denn brauchbare Führungskräfte so dicht gesät? Doch es gelang ihm immer wieder, welche zu finden, bis er schließlich über eine gute und halbwegs stabile Mannschaft verfügte.

Inzwischen war die ProCurand nochmals umgezogen, diesmal nach Berlin-Mitte in die Französische Straße, wo sie ein großes Bürohaus belegte. Das wurde der Hauptsitz des Unternehmens, dessen Standorte sich mittlerweile über die ganze Bundesrepublik verteilten. Nach einer Phase hektischer Käufe und Verkäufe trat auch hier eine Konsolidierung ein. Es gab bundesweit etwa zwei Dutzend Pflegeheime und Betreute Wohneinrichtungen, die von der ProCurand betrieben wurden, teil in Pacht und teils auch in Eigenbesitz; dazu kam allzeit eine Reihe von Neubau-, Anbau- und Kaufprojekten. Der Professor ging inzwischen auf die Achtzig zu, doch er betrieb ständig bei mehreren Banken Finanzierungen in Millionenhöhe, und seine Ideen für Sanierungen, Bauprojekte und Zukäufe waren unerschöpflich. Keiner Immobilie, die ihm angeboten wurde, konnte er widerstehen. Ich war mittlerweile zur Protokollantin der Vorstandssitzungen avanciert und konnte an jedem zweiten Montag die entsprechenden Debatten miterleben. Einmal, als der Professor wieder mit Leidenschaft Baupläne entwickelte, nahmen seine Ideen so konkrete Formen an, dass der Finanzchef nervös zu werden begann. „Herr Professor, die Liquiditätslage lässt zurzeit diesen Ankauf nicht zu“, warf er ein. Der Professor schmunzelte und gab zurück: „Dann hätten wir nie irgendwas kaufen können.“

 In den letzten Jahren nahm ihm das Führungsteam unmerklich die Zügel aus der Hand. Die Vorstandssitzungen, die zuvor intensive Arbeitsgespräche gewesen waren, nahmen den Charakter von Berichterstattungen der Hauptabteilungsleiter an. Noch immer gab der Professor mit fester Stimme seine Anweisungen, doch er ließ sich jetzt auch lenken und zu dem überreden, was seine Mitarbeiter für das Beste hielten. Die Zeit der Wutanfälle und cholerischen Hinauswürfe war für immer vorbei. Auch legte der Professor mitunter eine erstaunliche Weltfremdheit an den Tag. Als die Leiterin des Fortbildungsressorts berichtete, dass man zur Information der Auszubildenden einen Account bei Facebook einrichten wolle, fragte er verblüfft: „Was ist Facebook?“

Am Ende ließ sich sein Ausscheiden nicht länger hinausziehen. Er war achtzig Jahre alt, als er schweren Herzens das Unternehmen verließ, dessen Aufbau seine größte Lebensleistung und sein größter Erfolg geworden war. Doch den Ruhestand konnte er nicht lange genießen: Schon ein halbes Jahr nach der Pensionierung erlag er einer Lungenentzündung; und jenseits aller physischen Gründe, die zu seinem Tod geführt haben mochten, kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass er starb, weil ihm die Arbeit fehlte. Ich habe nie einen Mann gekannt, der die Arbeit so zum Leben brauchte wie er. „Wenn Sie ein Unternehmen führen, geht es nicht ums Geld“, sagte er einmal zu mir. Und ich glaubte ihm das aufs Wort. Sicher wird es ihn gefreut haben, dass er auf seine alten Tage noch mehrfacher Millionär geworden war. Doch der Betrieb seines eigenen Unternehmens bildete für ihn einen Wert, der weit über das Finanzielle hinausging. 

 

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