Die Paulig Eye Clinic in Berlin-Mitte bietet schöne neue Linsen für die Fernsicht an. Dass sich dabei die Nahsicht drastisch verschlechtert, wird den Patienten wohlweislich verschwiegen.
Beste Lage Unter den Linden, großzügig geschnittene Räume, edles, wenn auch nicht immer ganz geschmackssicher ausgewähltes Ambiente in Empfangsbereich und Wartezimmer – hier schreit wirklich alles: Schaut her, ich habe Geld! Dessen ungeachtet wurde mir die Paulig Eye Clinic warm empfohlen, als ich am Grauen Star operiert werden sollte. Damals sah ich mir mehrere Kliniken an, doch zwischen lieblos-anonymem Massenbetrieb und abgehobenem Buhlen um Privatpatienten fand ich keinen Mittelweg.
Am Ende entschied ich mich für die Paulig Eye Clinic – warum? Weil Frau Dr. Paulig als Operateurin einen sehr guten Ruf genießt. Weil sie auch Kassenpatienten annimmt. Und weil mir im Vorfeld suggeriert worden war, ich würde hier mehr bekommen als anderswo. Eine reiche Auswahl an verschiedenen Linsen. Eine Korrektur der Hornhautverkrümmung. Und vor der Operation ein ausführliches und individuelles Aufklärungsgespräch. Eine Katarakt-OP bietet bekanntlich den schönen Nebeneffekt, dass durch die neue Augenlinse, die man erhält, auch die Sehschärfe korrigiert werden kann. Ich träumte von einem Leben ohne Brille, und ich war trotz klammer Finanzlage bereit, mir diesen Traum etwas kosten zu lassen.
Die Paulig Eye Clinic ist teuer: Schon für die Voruntersuchungen (optische Biometrie, Hornhauttopographie) müssen 140 Euro auf den schicken Tresen geblättert werden. Das liegt etwas über dem Richtwert, der in den Vergleichsportalen genannt wird, doch grundsätzlich ist es in allen privaten Augenkliniken üblich, sich die Voruntersuchungen bezahlen zu lassen. Lediglich in den Augenabteilungen der öffentlichen Krankenhäuser sind sie gratis.
Erst nach erfolgter Zahlung und nach Abschluss aller Messungen findet das Informationsgespräch statt, bei dem sich erstmals die Chefin persönlich dem Patienten präsentiert. Frau Dr. Sylvia Paulig hat die Klinik aufgebaut und im Jahre 2015 an diesem Standort etabliert. Sie ist es, die allein im Hause operiert; jeder einzelne Patient kann sicher sein, dass seine Operation „Chefsache“ ist.
In meinem Fall war das Erstgespräch eine kalte Dusche. Statt gemeinsam mit der Ärztin die bunte Vielfalt der Möglichkeiten, von der ich gelesen hatte, zu erörtern, fand ich mich vor ein rigides Programm gestellt, ein Raster, aus dem niemand herausfallen durfte. Frau Dr. Paulig bietet – neben der „Kassenlinse“, für die keine Zuzahlung anfällt – vier zuzahlungspflichtige Sonderlinsen an: die asphärische Linse, die torische Linse, die UV-Schutzlinse und die Multifokallinse. Die letztgenannte ist der Porsche unter den Linsen. Sie kostet mehrere tausend Euro und korrigiert sowohl die Fern- als auch die Nahsicht. Alle anderen Linsen sind monofokal, und alle korrigieren ausschließlich die Fernsicht, während man zum Lesen und Handarbeiten weiterhin eine Brille braucht.
Nun war mir aber gerade der Nahbereich sehr wichtig, denn ich sitze den ganzen Tag am Computer. Eine Multifokallinse kam für mich aus finanziellen Gründen nicht infrage, doch ich wusste, dass man bei Monofokallinsen individuell wählen kann, ob man den Nah- oder den Fernbereich bevorzugt. Also erklärte ich, wenn ich schon auf einen Bereich verzichten müsse, dann lieber auf den Fernbereich, und wünschte mir eine Linse für die Nahsicht. Frau Dr. Paulig erklärte freundlich, das sei „leider nicht zulässig“. Ich erkundigte mich daraufhin nach Monovision, einer Methode, bei der auf einem Auge die Nah- und auf dem anderen die Fernsicht korrigiert wird, worauf das Gehirn einen Ausgleich herstellt und angeblich optimales Sehen ermöglicht.
Wieder antwortete Frau Dr. Paulig mit staunenswerter Rigorosität: „Monovision ist in Deutschland verboten.“
„Aber ich habe im Internet gelesen…“
„Das interessiert mich nicht, was im Internet steht!“, fiel mir Frau Dr. Paulig ins Wort, sichtlich aufgebracht durch meinen Widerspruch und meine abgehobenen Ansprüche.
Ich erkundigte mich also nur noch nach den angebotenen Sonderlinsen. Sie sollten immerhin Beeindruckendes bewirken: besseres Kontrast- und Dämmerungssehen, Korrektur der Hornhautverkrümmung, reduzierte Blendempfindlichkeit… Bestand dabei eventuell die Möglichkeit, über die Fernkorrektur hinaus auch die Sicht im Nahbereich zu verbessern? Und wie stand es um den Mittelbereich, der am Computerarbeitsplatz entscheidend ist? Frau Dr. Paulig hielt sich bedeckt – garantieren könne sie nichts, doch je nachdem, wie die Brechkraft vermessen werde… In etlichen Fällen hätte sich erwiesen… Es folgten technische Erörterungen und ermutigende Erfolgsbeispiele. Am Ende lächelte Frau Doktor wieder. „Ihre Entscheidung“, sagte sie sanft.
Und ich gab ihrer Siegessicherheit Recht – ich entschied mich nicht nur für die Operation in der Paulig Eye Clinic, sondern ließ mir sogar noch eine von den teuren Sonderlinsen aufschwatzen (die „asphärische Linse“ mit einer Zuzahlung von 299 Euro pro Auge). Wieder frage ich mich heute ratlos, warum. Ich bin nicht „reingefallen“ im klassischen Sinne. Natürlich wusste ich, dass in Deutschland weder Monovision verboten noch die Monofokallinse für den Nahbereich unzulässig war. Frau Dr. Paulig kam mir äußerst geschäftstüchtig vor, und die Art, wie sie mir über den Mund gefahren war, hatte mich sehr unangenehm berührt. Sicher wäre ich gegangen und nie wiedergekommen – wenn ich nicht ärgerlicherweise schon 140 Euro in diese Operation investiert hätte. Ein dummer Grund, heute ist mir das klar. Es wäre vernünftiger gewesen, mein gutes Geld abzuschreiben, statt ihm auch noch schlechtes hinterherzuwerfen. Aber 140 Euro waren für mich eine große Summe, und alles andere redete ich mir schön. Frau Dr. Paulig galt als sehr gute Operateurin. Ihre menschliche Seite konnte mir egal sein; schließlich wollte ich die Frau nicht heiraten. Vielleicht verschaffte mir die hochgepriesene Sonderlinse ja tatsächlich die ersehnte Brillenfreiheit. Und wenn nicht, hätte ich wenigstens eine bessere Fernsicht gewonnen und würde ansonsten leben wie bisher. So schlecht war meine Nahsicht nun auch wieder nicht.
Die Operation gelang hervorragend – und schlug alle meine Hoffnungen zu Boden. Tatsächlich waren es zwei Operationen, für jedes Auge eine, und sie fanden kurz nacheinander statt, im Abstand von lediglich drei Tagen, was nach meinen Recherchen ungewöhnlich ist. Normalerweise lässt man das erste Auge ausheilen, bevor man sich das zweite vornimmt. Doch das hätte womöglich den Effekt, dass der Patient es sich anders überlegt und auf die zweite OP verzichtet. Inzwischen habe ich bei einer Bekannten erlebt, dass sich nach der ersten Korrektur-OP tatsächlich ein Monovisionseffekt eingestellt hat: Auf dem einen Auge war die Fernsicht exzellent, bei dem anderen die Nahsicht, und daraus reslutierte, dass sie nunmehr gänzlich ohne Brille sehen kann und keine Operation am zweiten Auge mehr braucht.
Das kann bei Frau Dr. Paulig nicht passieren, da sie beide Augen nahezu in einem Aufwaschen operiert. Ihre beiden Operationen verbesserten zwar meine Fernsicht, so dass ich heute brillenfrei Filme sehen oder Auto fahren kann. Doch der Preis war eine drastische Verschlechterung der Nahsicht. Inzwischen wurde mir von mehreren Seiten erklärt, dass dieser Effekt nach solchen Operationen wie auch beim Augenlasern gar nicht selten eintritt, bis zu einem gewissen Grade sogar normal und erwartbar ist. Aber vor der OP war mir das nicht bekannt, sonst hätte ich auf sie verzichtet. Bisher hatte ich meine Lesebrille mehr aus Bequemlichkeit genutzt. Jetzt lernte ich zum ersten Mal, was es bedeutet, ein Sehkrüppel zu sein. Bei jeder Whatsapp nach der Brille fingern. Bei jedem Preisschild mit zusammengekniffenen Augen raten: Ist das nun eine Acht oder eine Drei? Bei jeder Mahlzeit und Mahlzeitzubereitung in breiigen Nebel hinuntersehen. Und dann das Gelächter unter den Freunden, wenn man wieder mal was falsch gedeutet hatte. Auch am Computer reichte der Abstand nicht aus, um brillenfrei arbeiten zu können. Mittlerweise – fünf Monate nach der OP – hat sich meine Nahsicht weiter verschlechtert. Überall in meiner Wohnung liegen Billiglesebrillen herum, aber wenn es darauf ankommt, ist nach Murphys Law natürlich keine greifbar. Das ist das Resultat, für das ich 740 Euro berappt und mich auf Monate in Geldnot gestürzt hatte.
Ich fand Gelegenheit, während der Nachkontrolle mit Frau Dr. Paulig darüber zu sprechen, doch mein Frust war ihr völlig unverständlich. Was wollte ich denn? Ich konnte doch in der Ferne eine wunderbare Vielfalt von Details erkennen. Und was die Nahsicht anbetraf, so bot die Paulig Eye Clinic für nur 1.400 Euro pro Auge eine wunderbare Laserkorrektur an, die mein Problem im Nu beheben würde.
Ich gab auf. Es war unmöglich, der Frau eine ärztliche oder rechtliche Schuld am Misslingen der Operation vorzuwerfen, schon weil in ihren Augen ein Misslingen gar nicht vorlag. Die meisten Menschen – so viel habe ich inzwischen durch meine Recherchen herausgefunden – bevorzugen die Korrektur im Fernbereich und sind ansonsten gern bereit, sich mit den Lesebrillen zu behelfen, die man für wenige Euro an jeder Ecke kaufen kann. Diese Klientel wird von Frau Dr. Paulig exklusiv bedient; und etwas anderes als die Korrektur im Fernbereich hatte sie auch mir nie versprochen. Dass sie ihre Aufklärungsgespräche wohlweislich erst nach dem Abschluss kostenpflichtiger Voruntersuchungen durchführt oder dass sie ihre Patienten nicht auf das Risiko einer drohenden Verschlechterung der Nahsicht hinweist, mag als legitime Geschäftstüchtigkeit durchgehen.
Die Schuld an dem Debakel trifft mich selbst – meinen Drang, „etwas Besseres“ als anderswo für mein Geld zu bekommen, der mich überhaupt erst in diese aufgemotzte Klinik führte. Ich hatte besonders schlau sein und die finanziellen Hürden clever austricksen wollen, um zum Preis der Monofokallinse die Vorzüge der Multifokallinse zu genießen. Dafür wurde ich bestraft, und das habe ich verdient, auch wenn es hart ist, dass ich diese Strafe nun für den Rest meines Lebens tragen muss. Aber wenn es um die Augen geht, bedeutet eine Strafe immer lebenslänglich. Möge dieser Bericht allen zur Warnung gereichen, die mit dem Gedanken an eine jener Augenoperationen spielen, die heute so massenhaft angeboten werden. Wie vorteilhaft und arm an Risiken solche Operationen auch erscheinen, sie sind immer ein Experiment mit dem Augenlicht, dem Kostbarsten, was wir haben, und wenn dieses Experiment schiefgeht, trägt den Schaden einzig und allein der Patient.
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