Fahrerjobs im eigenen Pkw boomen. Auch ich habe es ausprobiert und war sechs Wochen als Lieferantin für Seniorenessen mit meinem Smart fortwo in Berlin unterwegs. Dabei lernte ich die Licht- und Schattenseiten einer verborgenen Branche kennen.
Wo Neukölln am hässlichsten ist, liegt zwischen Lagerhäusern und Gewerbebetrieben der düstere Hof, in dem die Auslieferung der Firma Apetito ihren Sitz hat. Hier wird jeden Morgen gegen halb zehn das Seniorenessen des Tages an Dutzende von Fahrern verteilt. Sie kommen in ihren eigenen Wagen, eine buntgemischte Autoflotte – vom Smart fortwo bis zum großräumigen Lieferwagen ist alles dabei.
Drinnen in der Großküche werden die auszuliefernden Menüs erhitzt. Die Küchenfrauen packen die heißen Portionen in große Styroporboxen ein, die mit Wärmeplatten ausgestattet sind. Auf den Boxen stehen die Nummern der jeweiligen Touren. Jeder Fahrer hat seine feste Tour; die meisten fahren sie schon seit Jahren. Die jeweils aktuellen Bestellungen können sie den Tageslisten entnehmen, die im Büro für sie bereitliegen; aus ihnen ergeben sich ihre Routen. In Grüppchen schwatzend oder ungeduldig trampelnd warten sie, bis die Wagen mit den Styroporboxen aus der Küche rollen. Dann greift sich jeder die Boxen seiner Tour, lädt sie in den Wagen und braust davon, nach Steglitz, Köpenick oder Mitte. Der gesamte Berliner Raum wird von hier aus mit Seniorenessen beliefert.
Schwieriger Start
Fahrerjobs im eigenen Pkw boomen. Schon lange wollte ich so etwas mal ausprobieren. Vor einiger Zeit hatte ich versucht, mich als Fahrerin bei Amazon zu bewerben, doch das scheiterte an den zahlreichen Auflagen, die damit verbunden waren. Einer Firma wie Amazon sieht der Staat genau auf die Finger. Aber hier in Neukölln bei den Essensfahrern sind Auflagen und Einschränkungen unbekannt; niemand sieht niemandem auf die Finger. Mein neuer Chef – nennen wir ihn Toby – will weder meinen Führerschein noch meinen Punktestand in Flensburg prüfen. Ein einziges knappes Telefonat hat ihm genügt, mich zu engagieren. Sie wollen es probieren? Und wann könnten Sie anfangen? Was, im Juli erst? Warum denn so spät? Schon übermorgen soll es losgehen. Toby scheint dringend Leute zu brauchen.
Ich fahre erst mal nur bei ihm mit, um meine künftige Route kennenzulernen. Dann fährt er selbst noch einige Tage als Beifahrer in meinem Smart, während ich versuche, die Tour zu memorieren. Die Einarbeitung dauert lange. Mein Orientierungssinn war nie der beste – ich bringe Straßen und Kunden durcheinander, studiere minutenlang die Namensschilder, bevor ich den richtigen Klingelknopf finde, und vergesse schon auf dem Weg zur Haustür, in welchem Stockwerk der Kunde wohnt. Es dauert eine volle Woche, bis Toby mich allein auf die Kunden loslassen kann, und selbst dann brauche ich noch tagelang das Navi, um an den richtigen Ecken abzubiegen. Die jüngeren Leute sind natürlich wesentlich schneller von Begriff: Schon nach drei Tagen, behauptet Toby, kann bei entsprechenden Fähigkeiten ein neuer Fahrer eingearbeitet sein. Aber einige brauchen auch bis zu drei Wochen. „Meine Geduld ist da grenzenlos“, sagt Toby, „weil ich weiß, irgendwann kann das jeder.“
Mag sein, aber nicht jeder bleibt bei der Stange. Während der anderthalb Monate, die ich bei der Firma verbrachte, bewarben sich für meine Tour drei neue Fahrer, von denen kein einziger über die Phase der Einarbeitung hinausgelangte. Einer erwies sich als unzuverlässig, ein anderer fand einen besser bezahlte Stelle bei einer anderen Spedition, und eine Frau erklärte nach wenigen Tagen, sie könne den Geruch der alten Leute nicht ertragen. Ich selber zögere und bitte Toby erst mal um einen Probemonat, denn schnell wird mir klar, dass dieser Job nicht ohne Haken und Ösen ist. Man muss schon einiges dafür mitbringen: hinreichend körperliche Kondition, um die vertrackten Treppen in den Berliner Altbauten zu bewältigen. Hinreichend Fahrtüchtigkeit, um sich sicher und mutig durch die Straßen Berlins zu bewegen, wo allein schon die Parkplatzsuche eine gewisse Chuzpe erfordert. Hinreichend Genügsamkeit, um sich mit einem mageren Lohn zu bescheiden. Vor allem aber Verlässlichkeit und einen Nerv für den Inhalt dieser Arbeit.
Die Tour, die ich befahre – Mitte und Kreuzberg – zeigt das ganze breite Spektrum der Klientel, die das Angebot des Seniorenessens wahrnimmt. Da finden sich durchaus „normale“ Senioren – das gut situierte ältere Ehepaar, das nicht mehr so viel Arbeit in der Küche haben will, oder der Witwer, der zu Lebzeiten seiner Frau das Kochen niemals lernen musste. Doch das Gros der Kunden besteht aus Menschen, die dringend darauf angewiesen sind, dass ihnen ein verzehrfertiges Essen direkt ins Haus geliefert wird. Einige sind an den Rollstuhl gefesselt, andere schieben sich ächzend am Rollator zur Tür. Einer liegt seit Wochen fest im Bett; man muss seine Wohnung aufschließen und ihm das Tablett mit dem Essen auf den Bauch stellen. Viele verlassen kaum mehr das Haus. Ihre Gesichter sind bleich und welk, als hätte sie seit Wochen keine Sonne beschienen. Manche Frauen sind abgemagert bis zum Skelett, andere so verkrümmt und zusammengeschnurrt, dass sie wie Zwerginnen erscheinen. Allenfalls im Pflegeheim trifft man Krankheit, Siechtum und Gebrechlichkeit in derart geballter Ladung an. Wer diesen Hilflosen das Essen liefert, übernimmt eine hohe Verantwortung, denn wird es nicht geliefert, müssen sie hungern.
Ich entdecke Gegenden und Wohnformen, von denen ich keine Ahnung hatte. Das edle Kreuzberger Loft inmitten schön restaurierter Höfe am Kanal. Die Seitenwohnung direkt im Patentamt, behaust von einem dementen alten Herrn. Und gleich mehrere unsägliche „Seniorenhäuser“, heruntergekommene Hochaussilos, in denen die Alten hinter endlosen Gängen in Einraumwohnungen verwahrt werden. Oft sind sie nicht mehr imstande, sich selbst und ihre Wohnungen sauber zu halten; man blickt hinter ihren Köpfen in völlig vermüllte Räume hinein, und die Geruchsbelästigung, die jene Bewerberin in die Flucht schlug, ist in der Tat manchmal schwer zu ertragen. Die Fahrstühle in den alten Hochhäusern tuckern im Schneckentempo nach oben; jeder quietscht oder jault in einem anderen Takt. Einer bringt ein abgehacktes Kreischen hervor, das an die Duschszene in „Psycho“ erinnert. Ein anderer pfeift in verschiedenen Intervallen, als singe er eine Melodie. Und dabei muss man sich noch glücklich preisen, wenn sie überhaupt funktionieren, denn fällt einer aus, so darf man mit dem Essen bis zum 7. oder 9. Stock marschieren, und das ist nicht lustig in der Sommerhitze. Ich erlebe im Dienst den Rekordhitzesonntag, als die Stadt unter 38 Grad stöhnt. Aber auch bei Regen, Schnee oder Glatteis dürfte der Job seine Tücken haben.
Allmählich lerne ich meine Kunden näher kennen. Viele wecken mein Mitgefühl, einige auch wirkliche Sympathie. Zwar zu tieferen Gesprächen kommt es nie, die Zeit reicht nur für ein paar Alltagsbemerkungen: Ach, Sie haben ja schon wieder alles weggeworfen, essen Sie doch wenigstens heute was! Wird’s immer noch nicht besser mit dem Rücken? Oh, Sie waren beim Friseur! Oft habe ich den Eindruck, an diesem ganzen langen Tag die Einzige zu sein, die nach den Rückenschmerzen fragt oder die neue Frisur bemerkt. Doch gerade solche seelische Nahrung scheinen diese vereinsamten Menschen fast noch dringender zu brauchen als die körperliche. Wie dankbar reagieren sie auf jedes Lächeln, jede kleinste Freundlichkeit! Manche blicken mich wie flehend an, als erwarteten sie von mir Hilfe und Befreiung aus ihrer Isolation. Aber was kann ich ihnen geben als ein warmes Mittagessen und eine flüchtige Illusion von menschlicher Zuwendung und Gesellschaft, die nach wenigen Sekunden wieder verschwindet.
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