Thomas-Mann-Haus in Nida

Mit Schilfdach und Italienblick

Der Kontakt zum Architekten wurde brieflich unterhalten. Katia Mann beriet sich mit ihm über die Details der Ausstattung, sie prüfte die eingesandten Muster, und währenddessen wuchs in Nida das Mannsche Sommerhaus aus dem Boden. Am 16. Juli 1930 war es soweit: Der Dampfer aus Cranz legte in Nida an, und von Bord ging die komplette Familie Mann, der Autor, seine Gattin und sechs Kinder zwischen 11 und 25 Jahren. Für Nida war das ein bedeutsamer Tag. Das halbe Dorf stand am Hafen versammelt, um die Neubewohner zu begrüßen. Jubel, Blumen, Blaskapelle. Da waren die Honoratioren von Nida, strahlend in Erwartung lukrativer Geschäfte, da waren die Vertreter der Künstlerkolonie, und da war der Memeler Architekt, der das Sommerhaus errichtet hatte, vor Aufregung zitternd, ob seine Arbeit den Dichter auch zufriedenstellen werde. Doch er konnte bald beruhigt sein. Der Familie Mann gefiel das Haus auf Anhieb. Es war sehr schlicht im örtlichen Stil gehalten, die Wände aus Holz, das Dach aus Schilf, die Dachgiebel und Fensterläden von jenem intensiv leuchtenden Blau, das damals „Niddener Blau“ genannt wurde und bis heute charakteristisch ist für die historischen Gebäude im Ort. Auf der Erdgeschossebene gab es eine schattige Terrasse, von der aus eine Holztreppe zum Haffufer hinunterführte, und im Innenbereich ein großes Esszimmer. Oben lagen die Schlafzimmer der stattlichen Familie und das Arbeitszimmer des Vaters, das einen weiten Blick über das Haff bis hin zur ostpreußischen Küste bot – den „Italienblick“ nannte ihn halb scherzhaft, halb schwärmerisch der Autor. „Wir kamen an und saßen auf der Veranda unseres Häuschens, als ob es schon immer so gewesen wäre.“

Terrasse bei Thomas Manns FerienhausDrei Sommer verbrachte Thomas Mann in Nida. Er war damals mit der Josephs-Tetralogie beschäftigt, die seine Arbeitskraft noch über Jahre binden sollte. Wenn er sein Vormittagspensum am Schreibtisch mit Italienblick erledigt hatte, gesellte er sich zu seiner Familie, die ihre Tage meist am Strand verbrachte. Erika und Klaus, die beiden ältesten, bereits erwachsenen Mann-Kinder, nahmen nur ein einziges Mal an den Familienferien teil. Für sie lag Nida zu weit vom Schuss und war zu umständlich erreichbar, als dass es sie dorthin gezogen hätte. Doch die Jüngeren erlebten hier ein Kindheitsparadies, von dem sie zeit ihres Lebens schwärmen sollten. Ein herrlich breiter, feinsandiger, noch weitgehend unerschlossener Strand – die Manns waren die einzigen in ganz Nida, die einen Strandkorb ihr eigen nannten –, eine abwechslungsreiche, traumhaft schöne Natur, dazu behagliche Nachmittage auf der Terrasse und stille Abendspaziergänge am Haff – konnte man einen Sommer schöner verbringen?

Nein, Thomas Mann fand keinen Grund, den Bau des Sommerhauses zu bereuen. Es war vor allem die gewaltige Naturkulisse, die ihn stets aufs Neue faszinierte: „Immer wieder überkommt mich hier der Eindruck des Elementarischen, wie ihn sonst nur das Hochgebirge oder die Wüste hervorruft. Die Farbenpracht ist unvergleichlich, wenn der Osthimmel das Feuerwerk des westlichen widerspiegelt.“ Obwohl selbst mit dem Meer aufgewachsen, erlebte er hier eine „Ostsee, wie ich sie noch gar nicht kannte.“ In seinem Aufsatz „Mein Sommerhaus“ spürt man in jeder Zeile den Stolz, einen solchen Platz für sich entdeckt zu haben, und das Bedürfnis, damit zu prahlen wie mit einem exklusiven Fund. Mochte Hauptmann sich auf Hiddensee breitmachen, er, Thomas Mann, hatte ein weitaus edleres Sommerdomizil erwählt!

Der Werbeeffekt auf den Tourismus, den sich die Nidaer Einwohner von der Gegenwart des großen Autors erhofften, ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Zuvor waren Nida und die Kurische Nehrung eine Art touristischer Geheimtipp gewesen, dessen Ruf nicht allzu weit über Königsberg hinausgedrungen war. Nachdem nun aber „Onkel Toms Hütte“, wie die Einheimischen das Häuschen nannten, auf dem Schwiegermutterberg stand, erhöhte sich in Nida nicht nur die Zahl der Kur- und Badegäste signifikant, es erhöhte sich auch deren geistiges Niveau. Literarisch Interessierte aus halb Europa nahmen weite Anreisen auf sich, um die neue Wirkungsstätte des Nobelpreisträgers in Augenschein zu nehmen; besonders das deutsche Publikum sorgte für volle Strände und ausgebuchte Hotels. Auch die örtliche Künstlerkolonie profitierte von dem Thomas-Mann-Boom. Die Bildverkäufe mehrten sich, und mit ihnen das öffentliche Ansehen, das die Nidaer Maler genossen. Sogar ein frühes Merchandising blühte: „Im Kramladen sind, zwischen Bücklingskisten und Heringsfässern, die Buddenbrooks zu Hauf gestapelt“, schrieb die Wiener „Neue Freie Presse“ im August 1930, „und jedes Kind im Dorfe vertreibt außer selbstgepflückten Himbeeren und frischen Flundern Thomas-Mann-Photographien.“

Der Nobelpreisträger selbst war bekanntlich auch kein Medienasket und trug nicht wenig dazu bei, vor aller Welt seine Verbindung mit Nida öffentlich zu machen. Freundlich gab er jedem Reporter, der bei ihm anfragte, Interviews, ganz gleich, ob er von der lokalen Presse rund um Memel, Tilsit und Königsberg kam oder von einer renommierten Hauptstadtzeitung. Er empfing einheimische Schulkinder leutselig auf seiner Terrasse. Und er beteiligte sich an den ausgedehnten Kunst- und Politikdebatten, die man des Abends auf der Künstlerveranda des Hotels Blode zu führen pflegte.

Drei Sommer, 1930 bis 1932, erfüllt von Meeresrauschen und Naturschönheit, von Kinderlachen und hochgeistigen Gesprächen, von rosa Sonnenaufgängen am Haff und Ausflügen zu den majestätischen Elchen. Vielleicht hätte Thomas Mann zeitlebens seine Sommer in Nida verbracht, oder er wäre des exklusiven Spielzeugs alsbald überdrüssig geworden und hätte sich anderswo ein Haus gesucht. Der Zeitgeist ließ diese Frage offen und machte dem Idyll von Nida ein Ende. In Berlin kam ein gewisser Herr Hitler an die Macht, und Thomas Mann verließ das Land, verließ seine behagliche Münchner Wohnung und verließ auch das Sommerhaus in Nida. Er hat es niemals wiedergesehen und so selten erwähnt, dass der Eindruck entsteht, er hätte den Verlust leicht verschmerzt und im Laufe der Jahre regelrecht vergessen. Die Sonnenauf- und -untergänge in der Schweiz und später in Kalifornien waren schließlich auch sehr schön.

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