Thomas-Mann-Haus in Nida

Von der Ruine zum Kulturzentrum

Sieben Jahre lag das Haus in Nida verwaist. Der Landschaftsmaler Ernst Mollenhauer, der mit Hermann Blodes Tochter verheiratet und im Ort fest ansässig war, soll auf das Anwesen „aufgepasst“ haben, was immer man darunter verstehen mag. Dann griff derselbe Zeitgeist, der Mann vertrieben hatte, auch auf die Kurische Nehrung über. Im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes schlug man Litauen zunächst als Teilrepublik der Sowjetunion zu. 1941 wurde das Land von Hitlerdeutschland annektiert. Kein Geringerer als Hermann Göring riss sich Thomas Manns Sommerhaus unter den Nagel und erklärte es zum „Jagdhaus Elchwald“. Als unermüdlicher Sammler von Kunstobjekten aus ganz Europa konnte er sich eine derart prestigeträchtige Kulturimmobilie unmöglich entgehen lassen, obwohl er eigentlich weder Zeit noch Verwendung für ein Jagdhaus im abgelegenen Nida hatte – de facto war er auch niemals dort. Immerhin soll Albert Speer ein paarmal hier genächtigt haben. Und als der Krieg voranschritt, wurde das Haus zu einem Erholungszentrum für verwundete Luftwaffenoffiziere umfunktioniert.

Dann kam der grausame Winter 1944/45 und mit ihm die Invasion der Roten Armee in Ostpreußen. Die Einwohner Nidas konnten sich vor den anrückenden Russen in Sicherheit bringen, doch alles, was sie zurücklassen mussten, fiel den Besatzern in die Hände. Die einmalige Expressionismus-Sammlung des 1934 verstorbenen Hotelwirts Hermann Blode, die jetzt dessen Schwiegersohn Ernst Mollenhauer führte, wurde von den russischen Soldaten vollständig in der Sauna verheizt. Ihnen war kalt, und sie hatten keine Ahnung, was sie da in den Ofen warfen. Werke aller Stilrichtungen von Klassik bis Moderne lösten sich im Feuer auf, darunter viele Bilder von jenen Künstlern, die einst an lichten Sommertagen mit ihren Paletten und Staffeleien von Blodes Hotel aus losgezogen waren, um die Schönheit der Landschaft festzuhalten. So endete die fünfzigjährige Geschichte der Künstlerkolonie von Nida. Sie wurde niemals wiederbelebt.

Auch vor dem Sommerhaus Thomas Manns, das ohnehin bereits durch einen Granateneinschlag beschädigt war, machte die Kulturbarbarei nicht Halt. Die Inneneinrichtung wurde restlos geplündert – kein einziges Stück ist erhalten geblieben. Sogar Türen und Fenster riss man heraus. Das einst so schmucke und stilvolle Häuschen stand nun als nackte Ruine da, und das sollte es auch noch viele Jahre bleiben. Litauen wurde wieder zu einer Sowjetrepublik, und die neue Ortsverwaltung stufte das Haus als „abzureißende Kriegsruine“ ein.

Dass es nicht zum Abriss kam, ist dem litauischen Schriftsteller Antanas Venclova zu verdanken. Er war einer der höchsten Kulturfunktionäre des kommunistisch regierten Litauen, Stalinpreisträger und Textdichter der damaligen litauischen Nationalhymne. 1955 kam er zufällig bei einem Empfang in Weimar mit dem alten Thomas Mann ins Gespräch, der damals gerade Deutschland bereiste, und dabei muss die Rede auf dessen Sommerhaus in Litauen gekommen sein. Venclova soll vorgeschlagen haben, es zu einer Literaturstätte auszubauen, und Thomas Mann soll bereitwillig seine Zustimmung gegeben haben.

Belege gibt es weder für den Vorschlag noch für die Zustimmung, doch Antanas Venclova leitete daraus eine persönliche Mission ab und begann mit Feuereifer, die Behörden entsprechend zu bearbeiten. Er erklärte ihnen, wer Thomas Mann war und welche Bedeutung er nicht nur für die deutsche, sondern auch für die Weltliteratur besaß. Er beschwor sie, die Stätte zu erhalten, die der Genius einst durch seine Anwesenheit geadelt hatte. Er machte geltend, welch hohen Prestigegewinn ein Ferienort wie Nida durch ein solches Kulturangebot erlangen könnte. Und er hatte Erfolg, nicht sofort, aber Schritt für Schritt. Zunächst gelang es ihm, den Abriss des Objektes zu verhindern und eine erste Renovierung durchzusetzen. Das Haus wurde nun immerhin als Gemeinschaftsunterkunft für neu angesiedelte Arbeiter genutzt. Ab 1967 brachte man die örtliche Bibliothek darin unter, wobei bereits eine kleine Ausstellung an Thomas Manns Aufenthalt in Nida erinnerte.

Italienblick vom Thomas-Mann-HausRichtig in Schwung kam diese Erinnerung allerdings erst nach der Wende, als Litauen wieder eine freie Republik geworden war. Man unterzog das Haus einer weiteren umfangreichen Renovierung, im Grunde einem regelrechten Neuaufbau, der es authentisch so wiederherstellte, wie es zu Thomas Manns Zeiten gewesen war, mit Schilfdach und Holzfassade, mit blau bemalten Giebeln und Fensterläden, mit Terrasse und Italienblick. Auch die deutsche Regierung beteiligte sich an der Finanzierung des Projektes. Und dann wurde 1996 feierlich das Thomas-Mann-Kulturzentrum in Nida eröffnet, das in dieser Form bis heute besteht. Es beherbergt nicht nur das Thomas-Mann-Museum, sondern organisiert auch regelmäßig Musik- und Literaturveranstaltungen und richtet alljährlich ein Thomas-Mann-Festival mit Lesungen, Filmen und Seminaren aus. Mit zurzeit etwa 40.000 Besuchern pro Jahr ist es das meistfrequentierte Museum Litauens. In jedem Reiseführer, der die Sehenswürdigkeiten Nidas aufzählt, wird es an vorderer Stelle genannt.

Auch wir besuchen, als wir in Nida weilen, natürlich das Häuschen auf dem Schwiegermutterberg. Es ist einfach ein touristisches Muss, genau wie die Parnidis-Düne. Was soll man viel darüber sagen? Eine Innenausstattung gibt es nicht – der Besucher wandert durch leere Räume. An den Wänden hängen in drei Sprachen Informationstafeln zum Leben und Wirken Thomas Manns; auch seine Kinder finden ausführlich Erwähnung. Wir steigen die hölzerne Treppe hinauf, besichtigen das Arbeitszimmer des Meisters. Aha, das ist also der Italienblick. Unten im einstigen Esszimmer spielt man in Dauerschleife ein Video ab, das den Essay „Mein Sommerhaus“ wiedergibt, illustriert mit schönen Aufnahmen der Kurischen Nehrung. Wir nehmen Audioguides und hören uns, auf der Terrasse sitzend, die Geschichte des Mannschen Sommerhauses an. Vorn an der Straße sind Stände aufgebaut. Man verkauft Bernsteinschmuck, T-Shirts und Postkarten, die das historische Nidden zeigen. Am Ende kommen Touristen, wie überall.

 

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