Intransparente Entlohnung

Das System funktioniert – wer sollte auch daran rütteln? Die Migranten, die froh sind, ein paar Euro zu verdienen? Die Rentner, die hier eine Aufgabe finden? Auf dem Hof wird mein Unbehagen, soweit ich sehen kann, nicht geteilt. Ein alter Herr, der seinem Wagen entsteigt, ruft mir mit fröhlicher Miene zu: „Im Prinzip ist das doch leicht verdientes Geld, nicht wahr?“ Ich schäme mich zu sagen, dass ich die Arbeit noch immer nicht als leicht empfinde, dass ich nie losfahre ohne die Angst, ob heute auch alles gutgehen wird. Doch ich wende ein, es sei vielleicht ein bisschen wenig leicht verdientes Geld, nicht mal Sonntagszuschläge würden gezahlt… Der alte Herr wendet sich ab, sein Lächeln erlischt. Ach, diese Menschen heutzutage, lese ich in seiner Miene, nichts als den schnöden Mammon im Kopf.

Einem anderen Fahrer, mit dem ich etwas ausführlicher ins Gespräch komme, stelle ich geradeheraus die Frage, ob man Toby denn wirklich vertrauen könne. Die Antwort ist ein überzeugtes Ja. („Da kenn ich aber ganz andere in der Branche.“) Trotzdem bleibe ich skeptisch. Gegen Toby persönlich habe ich nichts einzuwenden. Als ich während der Einarbeitungszeit mit ihm durch Berlin gefahren bin, lernte ich ihn als interessanten, vielseitigen Gesprächspartner kennen. Aber als Chef ist er ein Mann, der sich nicht in die Karten gucken lässt. Ein Name und eine Handynummer, das ist alles, was er von sich preisgibt. Er ist weder im Netz noch in den sozialen Medien präsent. Im Grunde weiß ich gar nicht, für wen ich da fahre.

Mitte Juli erscheint auf meinem Konto eine Geldüberweisung, der Lohn für meine Arbeit im Monat Juni. Ich kann nicht nachvollziehen, wie die konkrete Summe zustande kommt, und bitte Toby um eine Lohnabrechnung. Er sagt zu, bleibt mir die Abrechnung aber schuldig. Als ich nachhake, meint er achselzuckend, das könne ich mir doch allein ausrechnen. Er nennt mir die Richtwerte für die Entlohnung, nicht zum ersten Mal, aber wieder nur mündlich. Ich insistiere, will die Lohnabrechnung sehen. Na schön, sagt Toby, er werde mir in den nächsten Tagen eine Mail zusenden. Doch abermals hält er seine Zusage nicht ein. Erst als ich ihn, nachdem ich mit einiger Mühe seine Mailadresse herausgefunden habe, mit dem Entwurf dieses Berichtes konfrontiere, lässt er mir durch einen Mitarbeiter – beileibe nicht durch persönlichen Kontakt! – zwei Lohnscheine für Juni und Juli übermitteln. Doch diese Lohnscheine sind ein Fake – pseudoamtliche Vordrucke, auf denen eine nicht nachvollziehbare Stundenzahl mit dem Mindestlohn-Faktor 9,19 multipliziert wird. Weder das erwähnte Kilometergeld noch die Anzahl der ausgelieferten Menüs sind in die Lohnberechnung eingeflossen. Mit einem Wort, diese „Abrechnung“ ist eher geeignet, Misstrauen zu säen als zu entkräften.

Natürlich kann es dafür eine harmlose Erklärung geben. Vielleicht mag Toby einfach den Schriftkram nicht. Aber hätte er böse Absichten, so könnte er sie ungestraft realisieren, denn die völlige Intransparenz des Systems ermöglicht weder Kontrolle noch Gegenwehr. Und dahinter scheint immer der Gedanke zu stehen, dass Leute wie wir, die Chancenlosen, die untersten und letzten Glieder in der Kette der Produktion, ja wohl kaum in der Position sind, besondere Ansprüche in puncto Sicherheit oder Arbeitsrecht zu stellen. Fresst, Vögel, oder sterbt!

 

Abschied mit Bedauern

Am Ende des Probemonats Juli beschließe ich, als Fahrerin aufzuhören. Ich treffe die Entscheidung nicht ohne Bedauern, denn der Job hat schon was in seiner einmaligen Mischung aus Sozialarbeit und Sport. Ich mag die proletarische Trucker-Atmosphäre morgens auf dem Neuköllner Hof, die einsamen Fahrten durch den Dschungel Berlins, die kleinen Dialoge mit den Kunden. Naja, und das Geld hätte ich natürlich auch sehr gut gebrauchen können. Aber das Risiko ist weitaus größer als die gebotenen Verdienstmöglichkeiten und erhöht sich noch durch den Status der absoluten Rechtlosigkeit, in dem man sich als Lieferant bewegt. Man versichert mir, das sei für diese Branche typisch, sei anderswo sogar noch krasser. Aber dann ist diese Branche wohl nichts für mich. Nein, ich mag nicht zu denen gehören, deren prekäre Lebenslage profitabel ausgenutzt wird. Gerade weil ich gesehen habe, mit wieviel Engagement und gutem Willen die meisten hier bei der Sache sind, empört mich der Mangel an Seriosität, der Mangel an Respekt, mit dem man uns behandelt.

Toby nimmt meine Entscheidung gelassen, obwohl sie ihn aktuell hart trifft: Noch immer ist es ihm nicht gelungen, einen neuen Fahrer für meine Tour zu finden. Er muss zusammen mit seinem Sohn sämtliche Einsätze selbst bestreiten. Mitunter hege ich die heimliche Hoffnung, mein Abgang, dessen Gründe er kennt, könnte für ihn ein kleines Signal sein, zumindest eins von mehreren Signalen, dass das System doch nicht unbegrenzt funktioniert und dass ein Umdenken geboten ist, vielleicht auch auf Seiten von Apetito. Aber da wünsche ich mir wohl zu viel. „Das ist nur eine kleine Sommerflaute“, sagt Toby beim Abschied siegesgewiss. „Im Herbst rennen sie mir wieder die Bude ein.“ Ich befürchte, der Mann hat Recht. Solange es in diesem Land Menschen gibt, die vom regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, werden ihm die Lieferanten nicht ausgehen.

 

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