Faktor 2: Mentalität

Ein weiterer Faktor, den die deutschen Berichterstatter als ursächlich für das Funktionieren des schwedischen Sonderweges ausgemacht haben, ist die mentale Disposition der Schweden. Was für artige, staatstreue Bürger! Sie folgen den Empfehlungen der Regierung, als wären es strafbewehrte Gesetze. Sie gehen scharenweise ins Homeoffice, alle diesbezüglichen Vorgaben und Betriebsplanungen überbietend. Sie meiden öffentliche Verkehrsmittel, kaufen ihre Lebensmittel online ein. Etliche tragen ganz freiwillig Masken, obwohl niemand sie anzählt, wenn sie es nicht tun. Mit einem Wort, sie gehen vorsichtiger und bedachter durch die Pandemie als diejenigen Nationen, denen ein Lockdown verordnet wurde. Politiker, die sich beim Shoppen oder Skilaufen öffentlich blicken lassen, werden auf das Strengste gerügt. Demonstrationen gegen die Regierung sind in Schweden unbekannt. Eine Querdenkerszene gibt es nicht. 

In den Berichten schwingt unterschwelliger Neid. Ja Kunststück, scheinen sie zu sagen, wenn ein Volk sich dermaßen diszipliniert und verantwortungsbewusst verhält, kann die Regierung leicht auf Restriktionen verzichten. Das ist verwirrend: denn sind wir Deutschen etwa keine disziplinierten und staatstreuen Bürger? Wird die Coronapolitik unserer Regierung nicht von einem überwältigenden Teil der Bevölkerung mitgetragen? Wo sonst gibt es so beeindruckend viele freiwillige Gesundheitspolizisten, die ingrimmig darüber wachen, dass jede, wirklich jede Regierungsverordnung buchstabengetreu umgesetzt wird? Wo sonst weisen sie in solch fanatischem Befehlston ihre Mitmenschen auf schief sitzende oder gar fehlende Masken hin, als hinge das eigene Leben davon ab? Wo sonst sind sie so gierig bereit, ihre Nachbarn zu denunzieren, weil sie sich heimlich die Haare schneiden ließen oder einen Besucher zu viel bei sich empfingen? Und wo sonst wird jeder Andersdenkende mit solch vehementer Überzeugung als Reichsbürger, Spinner, Terrorist diffamiert? Nicht mal in den seligen Stasi-Zeiten hat es so viel Regierungstreue, soviel vorbehaltlosen Glauben an die Richtigkeit der staatlichen Maßnahmen gegeben. 

Genug der Polemik – der Unterschied zwischen der Artigkeit in Schweden und der Artigkeit in Deutschland dürfte klar geworden sein. Man muss nicht Doktor Freud sein, um dunkel zu ahnen, warum Schweden keine Querdenkerszene hat, Deutschland dagegen eine gewaltige. Druck erzeugt Gegendruck – Zwang erzeugt Aggressivität. Die Querdenkerszene ist keineswegs die Ursache, sondern eindeutig die Folge des Zwanges, den Deutschland zur Durchsetzung seiner Politik für nötig erachtet, die Folge staatlicher Verbote und Bedrohungen, die Folge einer propagandistischen Presse, die Folge eines hysterisch angeheizten gesellschaftlichen Klimas, in dem die Bevölkerung hoffnungslos zerrissen und zerstritten wurde. Wo der Staat als Übervater auftritt, der die Wahrheit gepachtet hat und aus seiner Allwissenheit heraus den Bürger bevormundet und reglementiert, da sind Widerstand und Hader vorprogrammiert – das erleben wir in Deutschland Tag für Tag. Mit nationalen Mentalitäten hat das zunächst einmal gar nichts zu tun. Das deutsche Volk ist nicht weniger mündig, nicht weniger vernünftig als das schwedische, und hätte die Regierung darauf vertraut, hätte sie uns ernst genommen und als Partner bei der Bewältigung der Coronakrise akzeptiert, so gäbe es auch hier keine Querdenkerszene. Um es mit Martin Buber zu sagen: „Das Gegenteil von Zwang ist nicht Freiheit, sondern Verbundenheit.“ Wo Deutschland sich nur Zwang vorstellen konnte, hat Schweden auf diese Verbundenheit gesetzt.

Trotzdem war es natürlich kein Zufall, sondern sehr wohl mentalitätsbedingt, dass gerade in Schweden und nur dort ein Sonderweg eingeschlagen wurde, der auf der ganzen Welt seinesgleichen sucht. Eine solch „einsame“ Entscheidung gegen das, was allgemein als zwingend notwendig galt, wäre in Deutschland undenkbar gewesen. Man ist geneigt, Anders Tegnell und seine Mitstreiter tief zu bewundern für den Löwenmut, mit dem sie gegen den allgemeinen Strom geschwommen sind. Doch sieht man sie auftreten und agieren, so erscheint das Wort „Löwenmut“ kaum angebracht. Da ist nichts von Heldenpose, da ist nicht mal das spürbare Bewusstsein, dass man etwas Außerordentliches vollbringt. Da ist nur das unaufgeregte Bestreben, das zu tun, was man für angebracht hält, ohne sich von Mehrheiten beeindrucken zu lassen. Vielleicht ist es das seit Jahrhunderten in Schweden praktizierte Neutralitätsprinzip, das den Nationalcharakter geprägt und ihm im Umgang mit der Welt jene Distanziertheit, jenes Außenstehen verliehen hat, das es offenbar geradezu leicht macht, sich den jeweils herrschenden Trends zu verweigern.

Deutschland hat da leider eine deutlich andere historische Tradition. Es führt eine gerade Linie vom Untertanengeist des Kaiserreiches zu den Berichte schreibenden IMs der Stasi; und die Corona-Pandemie hat den „Staatstreuen“, die gegen „Staatsfeinde“ zu Felde ziehen, eine neue Blütezeit beschert.

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