Faktor 1: Durchseuchung/Herdenimmunität

Immerhin zeichnen sich ein paar Faktoren ab, die bei der erfreulichen Entwicklung in Schweden eine Rolle gespielt haben könnten. An erster Stelle ist hier natürlich das Stichwort Durchseuchung beziehungsweise Herdenimmunität zu nennen. Aber dieses Stichwort ist zugleich das allerfragwürdigste. Es bezeichnet den Zustand, der eintreten soll, wenn innerhalb einer Nation durch Impfungen oder überstandene Infektionen ein genügend hoher Anteil der Bevölkerung gegen das Virus immun geworden ist, um dessen weitere Verbreitung zu unterbinden. Es gibt sogar eine wissenschaftlich anmutende Formel dafür, in der die Basisreproduktionszahl R0 die entscheidende Variable ist – also die Anzahl der Personen, die ein jeweils Infizierter durchschnittlich ansteckt. Das Problem ist nur, dass diese Anzahl in Bezug auf Covid-19 nirgendwo mehr sicher erfassbar ist, da sie sich mit jeder neuen Infektionswelle, mit jeder Virusmutation, mit jedem Impfdurchbruch wieder ändert. Mittlerweile bezweifeln viele Wissenschaftler, ob in einer Nation selbst bei höchsten Impfquoten überhaupt je eine vollständige Herdenimmunität erreicht werden kann. 

Doch in Bezug auf Schweden geht es nicht um Impfquoten – die liegen dort (Stand März 2022) ähnlich hoch oder niedrig wie in Deutschland, nämlich bei etwa 75 % –, es geht um die natürliche Durchseuchung über Infektion und Genesung. Es geht um die Frage, ob ein nennenswerter Teil des schwedischen Volkes dadurch Antikörper entwickeln konnte, dass man auf Lockdown-Maßnahmen verzichtet und der Pandemie zumindest graduell ihren natürlichen Lauf gelassen hat. Die deutschen Virologen – zumindest diejenigen, die in den Medien den Ton angeben – sprachen sich lange strikt dagegen aus: Diese Art Herdenimmunität, so argumentierten sie, könne nur um den Preis einer dramatisch hohen Infektions- und Sterberate erworben werden, was auch abgesehen von der Gefahr einer Überlastung des Krankenhaussystems aus ethischen Gründen nicht vertretbar sei. 

Das klingt wenig überzeugend, wenn man bedenkt, dass alles Strampeln nach Hygienekonzepten und kategorischen Lebensbeschränkungen das Virus bisher nicht gehindert hat, in immer neuen Wellen und immer neuen Varianten auszubrechen. Bei einer Pandemie sterben nun mal Menschen, das gehört zu ihrem Wesen, und es sterben in erster Linie die Alten, Schwachen und Vorerkrankten. Wenn die Durchseuchung bewirken kann, dass die Pandemie auf längere Sicht gestoppt wird, und wenn die Todesbilanz am Ende weniger verheerend ausfällt als in denjenigen Ländern, die durch noch so gravierende Lebensbeschränkungen kaum etwas erreichen, ist es dann wirklich so ethisch, auf diesen Einschränkungen zu beharren? Selbst in Deutschland hat in letzter Zeit ein Umdenken in dieser Hinsicht eingesetzt: Im Zusammenhang mit der Omikron-Variante, die überwiegend mildere Krankheitsverläufe mit sich bringt, ist endlich der Gedanke aufgekommen, dass neben den Impfungen auch die massenhaften leichten, oft ganz unbemerkten Infektionen zu einer stabilen Immunität der Bevölkerung beitragen könnten. Christan Drosten war der erste unserer Corona-Gurus, der diesem Gedanken Worte verlieh („…Und es ist natürlich eine gute Situation, wenn man ein Virus hat, das nicht mehr so krank macht, das aber gut übertragbar ist, sodass es im Prinzip alle Immunitätslücken in der Bevölkerung sucht und findet und dort immer noch mal so ein Update der Immunität hervorruft.“). Mittlerweile (Stand März 2022) ist das Thema Durchseuchung geradezu in Mode gekommen und nährt mehr als jedes andere die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Pandemie.

Natürlich kann die Durchseuchung kein Allheilmittel sein. Das zeigt gerade das Beispiel Schweden, wo im Januar 2022 schon die erste neue Virusmutation genügt hat, um die Fallzahlen aus erfreulichem Tiefstand wieder in bedenkliche Höhen zu treiben. In den abgetrennten nationalen Verbänden der vergangenen Epochen wäre eine Herdenimmunität möglicherweise erreichbar gewesen; in unserer globalisierten Welt ist sie zur Illusion geworden, zumal es kein globales Bestreben gibt, sie überhaupt erreichen zu wollen. Ein einzelnes Land, das sich gegen die Corona-Hysterie der ganzen Welt stemmt, hätte nur bei konsequenter Abschottung eine Chance auf stabile Herdenimmunität gehabt. Doch Schweden strebte nie eine Abschottung an. Jede Coronawelle, jede Mutation hat aus der Welt heraus auch Schweden erreicht; und umgekehrt gibt es bittere Vorwürfe, dass schwedische Reisende im Ausland mehrfach als Infektionsträger wirkten und damit Angriffsflächen boten für das große Totschlägerargument der Lockdown-Apologeten: Wer aus der Reihe tanzt, gefährdet nicht nur sich selbst, sondern auch die „normalen“ und „vernünftigen“ Anderen, die Schutz verdienen.

Trotzdem hat sich in Schweden durch den Verzicht auf einschneidende Corona-Maßnahmen eine Art Durchseuchung eingestellt, und sie dürfte, so prekär und unvollständig sie auch ist, zumindest als ein Faktor unter mehreren, zum Absinken der Fallzahlen beigetragen haben.

Comments powered by CComment