Marianne Bachmeier erschoss im Gerichtssaal den Mörder ihrer Tochter Anna. Dafür wurde sie von der Justiz bestraft - und vom Volk bejubelt wie eine Heldin.

Es ist, als hätte sich eine dramatische Krimiszene in die Wirklichkeit verirrt: Eine junge attraktive Frau betritt entschlossenen Schrittes den Gerichtssaal, in dem der Mord an ihrer Tochter verhandelt wird, sie zieht eine Pistole aus der Manteltasche und feuert, bevor sie jemand aufhalten kann, acht Schüsse auf den Angeklagten ab. Der Mann ist sofort tot, das Aufsehen ohnegleichen.

Die Medien überschlagen sich, Reporter strömen aus dem In- und Ausland nach Lübeck, dem Schauplatz des Justizskandals. Auch in Ostberlin, wo ich damals lebte, ist die Geschichte in aller Munde. Mir bleibt unvergesslich, wie meine eigene Mutter, an sich eine vernünftige und erdverbundene Frau, mit heißen Augen zu mir sagte: Das hätte ich auch gemacht!

Diesen Satz bekommt man damals wohl zehntausendfach zu hören; er ist der eigentliche Grund für den ekstatischen Medien-Hype. Es sind liebevolle, fürsorgliche Eltern, die ihn sagen, Eltern, die schon bei dem bloßen Gedanken, jemand könnte ihren Kindern etwas antun, Mord- und Rachegelüste gegen den imaginären Täter verspüren und die voller Sympathie und Bejahung diese Gelüste hier ausgelebt sehen. Doch Marianne Bachmeier, die junge Frau, die so radikal dem Urteil der Justiz zuvorkam, entspricht keineswegs der landläufigen Vorstellung von einer liebevollen, fürsorglichen Mutter. Schon mit sechzehn hatte sie ihr erstes Kind bekommen und sofort zur Adoption freigegeben, ebenso wie zwei Jahre später das zweite.

Anna Bachmeier, das dritte Kind, wächst immerhin bei der Mutter auf. Doch zum Zeitpunkt ihrer Ermordung ist es bereits beschlossene Sache, dass auch sie zu Pflegeeltern kommen soll, denn Marianne hat in ihrem Leben eigentlich gar keinen Platz für ein Kind. Sie betreibt zusammen mit ihrem damaligen Lebensgefährten eine Szenekneipe in Lübeck, das allein ist schon ein lebensfüllender Job. Dazu kommt noch ein buntgemischter Freundes- und Bekanntenkreis, so unkonventionell und flippig wie sie selbst, und die zunehmend komplizierte Beziehung zu ihrem Lebensgefährten. Die Belange eines siebenjährigen Kindes sind dagegen kaum von Gewicht. Die kleine Anna wird sich selbst überlassen, wächst weitgehend unbeaufsichtigt zwischen Kneipe und Straße auf. Dass Marianne sie einem befreundeten Ehepaar überlassen will, ist in dieser Lage eine richtige Entscheidung. Leider kommt sie um wenige Wochen zu spät.

Am 5. Mai 1980 schwänzt Anna die Schule – mit Wissen der Mutter, nachdem es morgens einen häuslichen Streit gab – und treibt sich, wie so oft, auf der Straße herum. Sie sucht den in der Nachbarschaft wohnenden Klaus Grabowski auf und verlangt von ihm, nach seiner Aussage, eine Mark unter der Androhung, ihn sonst wegen schmutziger Berührungen anzuzeigen. Klaus Grabowski ist als Pädophiler vorbestraft. Er hat sich zwar kastrieren lassen, aber später mit Erlaubnis des Gerichtes eine Hormonbehandlung begonnen, deren Folgen offenbar zweifelhaft und schwer zu kontrollieren sind. Niemand weiß, was sich am 5. Mai 1980 zwischen ihm und Anna abgespielt hat. Fest steht nur, dass er sie über mehrere Stunden in seiner Wohnung festhält und schließlich mit einer Strumpfhose erdrosselt. Noch am selben Abend gesteht er das Verbrechen seiner Freundin, die ihn bei der Polizei anzeigt. Er räumt ein, Anna aus Angst vor deren Erpressung getötet zu haben, bestreitet jedoch den Vorwurf sexuellen Missbrauchs. Es ist kriminalistisch ein klarer Fall.

Vor der Leiche ihres Kindes entdeckt Marianne in sich die Mutter. Der lebenden Anna hatte sie nie besonderes Interesse entgegengebracht. Die Tote wird zum Mittelpunkt ihres Seins, zum Fetisch eines außergewöhnlichen Schicksals, das sie über die anderen Menschen erhebt. Mariannes Trauer zieht sich nicht in lähmende Depression zurück; sie wütet, sie agiert, sie will präsent sein vor der ganzen Welt. Nie streift sie der Gedanke, dass eine Teilschuld an der Tragödie bei ihr selbst liegen könnte. Ihr ganzer Hass gilt Klaus Grabowski, dem unmittelbar Schuldigen. Besonders übel nimmt sie es ihm, dass seine Aussagen geeignet sind, das von ihr idealisierte Andenken Annas in ein negatives Licht zu rücken. Schon früh muss sie seinen Tod beschlossen haben, und bald findet sich auch jemand in ihrem buntgemischten Freundes- und Bekanntenkreis, der ihr eine Pistole besorgt. Im schalldichten Keller ihrer Szenekneipe hält sie heimlich Schießübungen ab. So profan ist das: Man benötigt keine übermäßige Mutterliebe, um Marianne Bachmeiers Tat zu begehen. Man benötigt lediglich eine unbürgerliche Persönlichkeit, die sich leicht über geltende Normen hinwegsetzt, man benötigt jede Menge Geltungsbedürfnis, und man benötigt die technische Ausstattung zum Morden. Die meisten Frauen in Mariannes Lage wären schon an diesem letzten Punkt gescheitert.

Damals sind die Kontrollen in den Gerichtsgebäuden noch relativ lax, so dass Marianne Bachmeier die Pistole unschwer in der Tasche ihres weiten Mantels einschmuggeln kann, als sie am 6. März 1981, als Zeugin zum Grabowski-Prozess geladen, das Lübecker Landgericht betritt. Wenig später fallen die acht Schüsse, die Klaus Grabowskis Leben ein Ende setzen – und Mariannes Leben schlagartig in den Olymp der Prominenz katapultieren.

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