Er war der schnellste Runningback in der National Football League, und er hätte als ein Idol des Sports in die Geschichte eingehen können. Doch die meiste Publicity erntete er für einen spektakulären Doppelmord.

OJ Simpson, Footballstar und Doppelmörder. Heute ist der Mann halb vergessen, doch in den 1960-er und 1970-er Jahren zählte er zu den prominentesten Sportlerpersönlichkeiten des Landes. Seine Geschichte transportiert den uramerikanischen Aufstiegstraum: Armer schwarzer Junge überwindet durch sportliches Talent und Zähigkeit seine Herkunft aus dem Prekariat und wird zum gefeierten Football-Star. Die Menschen liebten ihn für diese Geschichte, die Medien des Landes wurden nicht müde, sie zu erzählen, doch er selbst schlussfolgerte daraus vor allem das Eine: dass er ein Auserwählter sei. Dass er über den anderen Menschen stünde und außerhalb ihrer Gesetzlichkeit. Dass er tun und lassen könnte, wonach immer ihm der Sinn stand, ohne Strafe befürchten zu müssen. Ärgerlicherweise hat die Welt, in der er lebte, diese Annahme größtenteils gerechtfertigt.

Schon als Junge erhielt OJ Stipendien zuhauf und wurde im Triumph von einer renommierten Sportschule zur anderen getragen. Auch ans College gelangte er mit einem Sportstipendium, und niemand hat dort je von ihm verlangt, er möge neben seinem athletischen Körper auch noch seinen Geist betätigen. In diese Zeit fallen seine ersten aufsehenerregenden Erfolge im Football und in der Leichtathletik. Sein Laufstil und seine Schnelligkeit müssen atemberaubend gewesen sein.

Als er in den Profi-Football einstieg, wurde er mit Angeboten nur so überschüttet. Die besten Teams der National Football League wetteiferten um seine Gunst. Den Zuschlag bekamen die Buffalo Bills, wo OJ Simpson ein legendärer Runningback wurde. Die Siege und Niederlagen auf dem Spielfeld prägten über viele Jahre sein Leben; doch der allerwichtigste Teil des Spiels war für ihn immer die große Show, und die beherrschte er perfekt. Niemand riss effektvoller als er nach einem Tor die Arme hoch, niemand wand sich nach einem Sturz ergreifender mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden, und Millionen schauten ihm dabei zu. Ständig kreisten Kameras um ihn, ständig hielten ihm Reporter ihre Mikros unter die Nase. So eng verband sich sein Alltag mit dem öffentlichen Auftritt, dass er irgendwann das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden konnte. In diesen Jahren lernte er, das Leben als eine einzige gigantische Show zu betrachten und sich selbst darin als permanenten Superstar.

Umgekehrt sah die amerikanische Presse den gutaussehenden, redegewandten und medientalentierten OJ Simpson als permanenten Stofflieferanten an und verfolgte dankbar seine Aktivitäten, die keineswegs auf den Sport beschränkt waren. Schon früh versuchte OJ sich erfolgreich als Schauspieler und brachte es im Laufe der Jahre zu einer richtigen kleinen Hollywood-Karriere. Nebenbei verdiente er noch Millionen durch Werbung, vor allem für den Autovermieter Hertz. Nach seiner aktiven Zeit als Football-Spieler wurde er Sportkommentator beim Fernsehen und bewies, dass er im Reden nicht weniger begabt war als im Fußballspielen. Auch die Klatschpresse bekam reichlich Futter geboten: OJ Simpson galt als Lebemann und Partylöwe, der beim Feiern schon mal über die Stränge schlug und der sich gern mit schönen Frauen schmückte. Eine von ihnen war Nicole Brown, Bedienung in einem der Nachtclubs von Beverly Hills, wo Simpson seine Partys zu feiern pflegte. Er erkor sie zu seiner zweiten Ehefrau, überschüttete sie mit Geschenken, hob sie zu sich empor in die Prominenz - doch was sie anfangs vielleicht für das Große Los hielt, weihte sie einem frühen Tod.

Nicole Brown Simpson war von der Mutter her deutschstämmig und auch in Deutschland zur Welt gekommen. Gern trug sie ihr langes blondes Haar zu einem Kranz eng um den Kopf gewunden, womit sie haargenau dem amerikanischen Klischee vom holden deutschen Gretchen entsprach. Wenn OJ Simpson an ihrer Seite, meist lässig den Arm um sie gelegt, vor den Kameras posierte, wirkte er wie ein Sieger mit seiner Trophäe. Es war, als werde erst durch den Besitz dieser Frau der amerikanische Traum vom Triumph des schwarzen Mannes für ihn vollkommen.

Hinter den Kulissen erschien das Bild des Paares weniger fotogen. OJ war in seiner Jugend vermutlich ein ganz netter Kerl gewesen. Seine erste Ehe mit der Afroamerikanerin Marguerite Whitley, die er am College kennenlernte, hatte über viele Jahre gehalten. Doch das Übermaß an Ruhm und Geld, das ihm zufiel, stieg ihm zu Kopf und zeitigte in ihm jenen „Gottkomplex“, der allmählich seine zwischenmenschlichen Beziehungen vergiftete. In der zweiten Ehe mit Nicole Brown Simpson trat er unverblümt als Haustyrann auf, jähzornig, eifersüchtig, egoman. Er sah keinen Grund, seine Emotionen zu zügeln, und er trug keine Bedenken zuzuschlagen, wenn sein Besitz ihm widersprach.

Nicht lange nach der glamourösen Hochzeit fuhr zum ersten Mal ein Polizeiwagen beim Luxusanwesen der Simpsons vor, da die junge Ehefrau den Notruf gewählt hatte. Das tat sie noch sehr häufig in den folgenden Jahren, meist aus einem Versteck heraus oder auf panischer Flucht vor ihrem Mann, ins Telefon schreiend, er wolle sie umbringen. Wenn dann die Polizisten kamen, fanden sie OJ Simpson in einem Zustand enthemmter, unsinniger Wut, gleich einem rasenden Othello, gierend nach dem Tod seiner Desdemona. Einmal schlug er sie so hart auf den Nacken, dass der Abdruck seiner Hand dort zu sehen war, gleich einem eingebrannten Siegel, das den Besitzer dieses Fleisches kundtat. Ein andermal drosch er sie krankenhausreif. Die Polizisten, von OJ Simpson großzügig geschmiert, drückten für gewöhnlich beide Augen zu. Ein Versuch, ihn wegen häuslicher Gewalt zu verklagen, verlief aufs Kläglichste im Sande; das Gericht wagte es nicht, den Nationalheros wie einen gewöhnlichen Schläger zu bestrafen.

Erst nach sieben Jahren Ehe tat Nicole, was mehr als überfällig war: Sie reichte die Scheidung von OJ ein. Aber auch danach hörte er nicht auf, seine Exfrau zu verfolgen und eifersüchtig zu beargwöhnen. Er selbst hatte längst eine neue Freundin, doch von Nicole verlangte er, dass sie in seinem Besitz verblieb. Fast zwei Jahre vergingen mit Stalking, Streitereien und Versöhnungsversuchen. Dann kam der Abend des 12. Juni 1994. Nicole traf sich mit ihrer Familie beim Lieblingsitaliener zum Abendessen. Als die Gesellschaft gegangen war, klingelte das Telefon: Nicoles Mutter hatte ihre Brille im Restaurant liegenlassen. Einer der Kellner, Ronald Goldman, erbot sich, die Brille auf dem Heimweg bei Nicole vorbeizubringen; ihr Apartment lag ganz in der Nähe.

Stunden später fand man im Eingangsbereich des Apartments die blutüberströmten Leichen von Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman. Man konnte nur mutmaßen, was passiert war: Vielleicht hatte OJ Simpson Nicole wieder einmal geschlagen, und der zufällig hinzukommende Ron Goldman wollte ihr zu Hilfe eilen. Oder es war O. J., der hinzukam, als Nicole an der Tür mit Ron Goldman sprach, und ihn für ihren Liebhaber hielt. Aus der Vielzahl der Berichte geht nicht klar hervor, ob Ron tatsächlich nur der Kellner war, der Nicole die Brille ihrer Mutter brachte, oder außerdem noch ein Verehrer, mit dem sie flirtete. Auf jeden Fall hatten die beiden gegen den athletischen Simpson keine Chance. Einmal mehr muss ihn jene enthemmte Raserei befallen haben, über die er keine Kontrolle hatte. Immer wieder stach er mit dem Messer auf seine beiden Opfer ein. Insbesondere der Leichnam Nicoles war auf das Übelste zugerichtet; unter anderem wies er einen Kehlschnitt von solcher Breite und Tiefe auf, dass fast eine Enthauptung herbeigeführt wurde.

Als man OJ verhaften wollte, kam es zu einer Reality Show, wie sie das Land noch nicht gesehen hatte: OJ floh zusammen mit einem Freund in einem weißen Ford Bronco über den Highway, verfolgt von mehreren Polizeiwagen – und von Millionen Fernsehzuschauern, die das Spektakel live auf ihren Bildschirmen sahen. Welch ein Volksfest für die stets nach Sensationen dürstende Seele Amerikas! Die Leute standen am Straßenrand und winkten, viele schwenkten Fähnchen oder hielten selbstgemalte Schilder hoch, um ihren Helden anzufeuern. Die Einschaltquoten übertrafen selbst noch diejenigen, die OJ bei seinen größten Football-Kämpfen erreichte. Bis heute gilt die skurrile Verfolgungsjagd als ein Großereignis in der amerikanischen Fernsehgeschichte.

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