Jesiden gelten als friedliebend und sanft. Doch wenn sie die Ehre der Familie verletzt sehen, reagieren sie mit ebensolch archaischer Gewalttätigkeit, wie man sie von islamisch dominierten Völkern oder Religionsgruppen kennt. An den berüchtigten „Ehrenmorden“, die in Deutschland begangen wurden, haben auch Jesiden ihren Teil.
Es waren vor allem zwei Mädchenmorde innerhalb jesidischer Familien, die bundesweit Aufsehen erregten und die Lebensregeln der Jesiden in den Fokus der Öffentlichkeit rückten. Beide trugen sich im Spätherbst 2011 zu, und in beiden Fällen wurden blutjunge Mädchen, die gegen Traditionen aufbegehrten, von der eigenen Familie mit dem Tod bestraft.
Als Souzan Barakat sterben musste, war sie erst dreizehn Jahre alt. Sie hatte zusammen mit ihrer aus dem Irak geflüchteten Familie im niedersächsischen Nienburg gelebt, dann jedoch fluchtartig ihr Elternhaus verlassen und sich unter den Schutz des örtlich zuständigen Jugendamtes gestellt. Warum? Souzan wird als ein ruhiges, unauffälliges Mädchen beschrieben; es kann nichts Kleines gewesen sein, was sie zu einer derart frühen und derart radikalen Trennung von ihrer Familie bewogen hat. Züchtigung? Missbrauch? Wir werden es nie erfahren. In den Medienberichten heißt es meist vage, Souzan hätte sich ein „Leben in Freiheit“ gewünscht. Die Mutter, später von Reportern befragt, will nicht die leiseste Ahnung gehabt haben, was Souzan zu ihrer Flucht bewog.
Ein halbes Jahr lebte Souzan Barakat in einer Jugendhilfeeinrichtung. Ali Barakat, ihr Vater, empfand dies als „Schande“ für die Familie und setzte alle Hebel in Bewegung, um Souzan von ihrem Weg abzubringen. Er soll sogar bei einem befreundeten Arzt ein Gutachten beauftragt haben, mit dem er seine Tochter in die Psychiatrie einweisen lassen konnte. Mehrere Aussprachen verliefen ergebnislos; das Mädchen weigerte sich konsequent, zu ihren Eltern zurückzukehren. Der Landkreis Nienburg soll erwogen haben, den Eltern das Sorgerecht zu entziehen, was die „Schande“ des Vaters zementiert hätte.
Am 5. Dezember 2011 fand im Jugendamt Stolzenau ein weiteres Familientreffen statt. Der Anstoß ging von den Eltern aus, die ihre Tochter in einem scheinbar versöhnlichen Brief darum gebeten hatten. Doch Ali Barakat kam mit einer Pistole zum vereinbarten Treffpunkt, und nachdem auch diese Aussprache gescheitert war, erschoss er Souzan auf offener Straße. Dann flüchtete er und blieb unauffindbar.
Ein Jahr später tauchte auch seine Ehefrau mit den drei jüngeren Söhnen ab. Die Ermittler gehen von einer „Familienzusammenführung“ in der Illegalität aus. Souzans Mutter hatte zwar am Grab ihrer Tochter bitterlich geweint, aber die Tat ihres Ehemannes scheint sie dennoch mitzutragen. Vermutlich gilt das Gleiche auch für die jesidische Glaubensgemeinschaft, ohne deren Hilfe Ali Barakat sich wohl kaum der Fahndung hätte entziehen können. Bis heute (Stand 2024) ist sein Aufenthaltsort nicht ermittelt worden.
Arzu Özmen hatte das Pech, sich in den falschen Mann zu verlieben. Sie wuchs zusammen mit neun Geschwistern in Detmold (Nordrhein-Westfalen) auf, wohin ihr Vater in den 1980-er Jahren aus Anatolien geflüchtet war. Neben der Schule jobbte sie in einer Detmolder Bäckerei, und dort lernte sie ihren späteren Freund, den Russlanddeutschen Alexander kennen. Als Arzus Familie Wind von der heimlichen Romanze bekam – Alexander hatte der Geliebten einen Strauß Rosen ins Haus geschickt –, nahm das Romeo-und-Julia-Drama seinen Lauf, denn Jesiden praktizieren Endogamie, dürfen also nur innerhalb ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft heiraten.
Arzu wurde von ihrer Familie eingesperrt, auf das Schwerste misshandelt und wochenlang bedrängt, ihre Beziehung zu Alexander aufzugeben. Durch ein Kellerfenster konnte sie schließlich entkommen. Sie zeigte Vater und Brüder bei der Polizei an und flüchtete in ein Frauenhaus. Mehrmals erklärte sie, es werde ihr Tod sein, wenn sie je in ihr Elternhaus zurückkehren müsste.
Man versteckte sie, verhalf ihr zu einem neuen Aussehen und einer neuen Identität. Doch der Familienclan spürte sie auf. In der Nacht des 1. November 2011 stürmten fünf Özmen-Geschwister Alexanders Wohnung, wo das Liebespaar sich aufhielt. Sie schlugen Alexander nieder und verschleppten Arzu in ihrem Wagen. Zwar wurden die Täter schnell gefasst und in Untersuchungshaft gesetzt; doch Arzus Leichnam fand man erst Wochen später, im Januar 2012, auf einem Golfplatz nahe Lübeck. Das gerade 18-jährige Mädchen war mit zwei aufgesetzten Kopfschüssen förmlich hingerichtet worden.
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