Luchino Visconti, Björn Andresen

Sei schön und halt den Mund

Im Sommer 1970 reist Björn zu den Dreharbeiten nach Venedig. Noch weiß er nicht, dass dieses Engagement seinem Leben eine neue Richtung geben wird. Für ihn ist es ein leichter Ferienjob mit wenig Arbeit und guter Bezahlung. Er wirkt zwar in einem Spielfilm mit, sogar als Darsteller einer Hauptrolle und mit großen Stars als Partnern, aber schauspielerische Leistungen werden ihm nicht abverlangt. Der Tadzio ist eine stumme Rolle. Natürlich nicht im Wortsinne stumm; bisweilen hört man ihn von fern mit seiner Familie polnisch sprechen. („So erhob Fremdheit des Knaben Rede zur Musik…“) Doch in der eigentlichen Handlung hat er kein einziges Wort Text.

Sei schön und halt den Mund, lautet ein Filmtitel aus den 1950-er Jahren. Nach dieser altmodisch sexistischen Devise wird Björn Andrésen durch den Film geführt. Man steckt ihn in die attraktiven Matrosen- oder Schwimmanzüge aus der Zeit um die Jahrhundertwende und schickt ihn auf den Set wie ein Model auf den Laufsteg. Björn sagt, er hätte von Visconti, wenn überhaupt, gerade mal vier Regieanweisungen bekommen: „Lauf los!“, „Bleib stehen!“, „Dreh dich um!“ und „Lächle!“ Dem Letzteren kommt natürlich eine ganz besondere Bedeutung zu, denn Tadzios Lächeln bildet einen Höhepunkt in Thomas Manns Liebes- und Todesgeschichte, „sprechend, vertraut, liebreizend und unverhohlen… das Lächeln des Narziss, der sich über das spiegelnde Wasser neigt, jenes tiefe, bezauberte, hingezogene Lächeln, mit dem er nach dem Widerscheine der eigenen Schönheit die Arme streckt… kokett, neugierig und leise gequält, betört und betörend“.

Kann man so etwas spielen – kann man es inszenieren? Äußerlich passiert wohl nicht mehr als das, was Björn Andrésen geschildert hat: Visconti sagt: „Lächle!“, und der Junge lächelt. Visconti weist ihm die Plätze zu, wo er entlanglaufen oder sich aufstellen soll, und der Junge posiert für ihn. Doch bei den Dreharbeiten geschieht ein Wunder – eins der unverhofften, unerklärbaren Wunder der Kunst: Aus dem leichten Ferienjob wird Ernst – aus Björn Andrésen wird Tadzio. Die morbide Todesengel-Symbolik, die von der Figur ausgeht, färbt ab auf den unscheinbaren schwedischen Jungen und hüllt auch ihn in eine mysteriöse Aura. In seinen Blicken, seiner Miene scheint sich etwas zu spiegeln, was ihn weit über ein nur schönes Model erhebt. Er erweist sich als das ideale Medium für die Intentionen seines Schöpfers – vielmehr seiner beiden Schöpfer Thomas Mann und Luchino Visconti. Ist das eine Art schauspielerische Begabung? Hat der Junge intuitiv begriffen, worum es in seiner Rolle geht? Oder ist es Viscontis Verdienst? Ist es die Art, wie er Björn führt und in Szene setzt?

Wie aus immer, bis zum heutigen Tag kann niemand mehr die Novelle lesen, ohne sich den Tadzio in der Gestalt Björn Andrésens vorzustellen – selbst wer sie zuerst gelesen hat, wird seine ursprüngliche Vorstellung vergessen, wenn er die Verfilmung sieht. Ja, so muss Tadzio ausgesehen haben – so muss er beim Baden mit seinen Gefährten über den Lido gelaufen sein, so schritt er in der Hotellobby an Aschenbach, an Thomas Mann vorbei, nicht ahnend, wie dem großen, würdigen, erfolgsverwöhnten Autor das Herz bei seinem Anblick hämmerte. Zwar lehrt uns die Literaturwissenschaft, dass der „historische“ Tadzio, der 1911 Thomas Manns Wege kreuzte, vermutlich ganz anders ausgesehen hat und übrigens auch erheblich jünger war. Doch dieses akademische Wissen versinkt zu Staub vor den lebendigen Bildern, vor der magischen Realität, die Visconti in seinem Film erschafft.

Schon am Set wird deutlich, was für einen Volltreffer der Maestro hier gelandet hat. Vor den staunenden Augen der Filmcrew nimmt der Rohdiamant Gestalt an, mausert sich das unscheinbare Entlein zum Schwan. Es ist eine sehr spezielle Filmcrew: Visconti ist unverhohlen schwul, und seine Mitarbeiter sind es größtenteils auch. Angesichts des appetitlichen Jungen, der durch Viscontis Kunst noch appetitlicher wird, tropft natürlich mehr als einem der Zahn. Visconti gibt die strikte Anweisung aus, dass Björn nicht angerührt werden darf, solange die Dreharbeiten laufen – eine Anweisung mit bitterem Beigeschmack, denn sie impliziert, dass er danach zum Abschuss freigegeben wird.

Doch Björn ist gerade jetzt alles andere als ein gut behüteter Junge. Zwar wird sein Einsatz in Venedig nach allen Regeln durchgeführt, die der Jugendschutz für die Beteiligung Minderjähriger an „erwachsenen“ Filmproduktionen vorsieht. Björn erhält eigens eine Lehrerin, die dafür sorgt, dass er keinen Lehrstoff versäumt. Er erhält eine Betreuerin, die ihm hilft, sich in der unbekannten Umgebung zurechtzufinden – freundliche Frauen alle beide, aber Fremde, die sein Schicksal nicht lenken können. Ansonsten wird er nur von seiner Großmutter begleitet, und die ist ungeheuer stolz darauf, dass sie ihren Enkel endlich ins große Scheinwerferlicht katapultiert hat. Als ihr Visconti eine kleine Rolle in seinem Film anbietet, weiß sie sich vor Begeisterung kaum zu lassen. Sie ist definitiv nicht die beste Wahl, wenn es darum geht, einen Heranwachsenden durch eine heikle Lebensphase zu geleiten. Im Grunde hat Björn, elternlos, wie er ist, keinen Menschen, der ihn um seiner selbst willen liebt und sich wirklich für ihn verantwortlich fühlt.

Dafür hat Tadzio alsbald jede Menge Fans. Im März 1971 feiert Viscontis Film in London Weltpremiere. Prominente, Presserummel, Blitzlichtgewitter. Visconti und sein junger Hauptdarsteller bekommen von der Queen die Hand gereicht. Ein paar Wochen später wird „Der Tod in Venedig“ als italienischer Wettbewerbsbeitrag auf dem Filmfestival von Cannes gezeigt. Noch mehr Prominente, noch mehr Presserummel, vor allem aber noch mehr Blitzlichtgewitter, und das prasselt in erster Linie auf den bislang völlig unbekannten Jungstar Björn Andrésen nieder. Gewiss, man lobt Visconti für seine feinfühlige und adäquate Umsetzung der Mann-Novelle, man lobt auch Dirk Bogarde, der als Aschenbach eine exzellente schauspielerische Leistung bietet, doch das alles wird mehr nebenbei vermerkt. Die eigentliche Sensation in dem Film ist die Schönheit Tadzios – jene abgehobene, morbid gefährliche, Liebe und Tod inspirierende Schönheit, um derentwillen sich ein Mann selig rückhaltlos in den Abgrund stürzt. Diese Schönheit lässt die Menschen in die Kinos strömen, zieht sie an wie der Leim die Fliegen. Ein Kritiker scheut sich nicht zu behaupten, dass das Gelingen der Tadzio-Besetzung ursächlich für das Gelingen des Films war. Möglicherweise hat er Recht.

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