Luchino Visconti, Björn Andresen

Im Blitzlichtgewitter

Visconti platzt vor Entdeckerstolz. Er ist es, der Björn erstmals als den „schönsten Jungen der Welt“ ausruft, ein Wort, das die Presse gierig aufgreift. Unermüdlich erzählt er in allen Interviews und Pressekonferenzen, wie Björn das Stockholmer Hotelzimmer betrat und wie er, Visconti, mit scharfem Blick den einzig wahren Tadzio in ihm erkannte.  Björn sitzt dann immer lächelnd neben dem Maestro, doch zu melden hat er auch jetzt nicht viel. Er ist schön und hält den Mund, genau wie bei den Dreharbeiten. Worüber sollte er auch sprechen, über seine Schülerband oder den frühen Tod seiner Mutter? Diese Leute interessieren sich nicht für seine provinzielle Gedankenwelt, sondern einzig und allein für seine äußere Hülle. An der können sie sich gar nicht satt sehen. Sie lauern ihm auf vor den Hotels. Sie lassen vor seinem Kopf ihre Blitzlichter platzen. Sie umringen ihn auf den Empfängen so dicht, dass er kaum Atem holen kann. „Es war,“, sagt Björn, „als ob die ganze Zeit Schwärme von Fledermäusen um mich herumflögen.“

Natürlich ist es für den Sechzehnjährigen verwirrend, sich selbst von einem Tag zum anderen als allgemeines Objekt der Begierde im Zentrum eines Medienhypes zu sehen. Was ihn vor allem irritiert, ist die homoerotische Komponente, die notwendig zu seiner Rolle gehört und von dieser auf sein eigenes Privatleben abzufärben droht. Wie fast alle heterosexuellen jungen Männer jenes homophoben Zeitalters empfindet er es als beleidigend und rufschädigend, auch nur in die Nähe einer schwulen Existenz gerückt zu werden. Es erbittert ihn maßlos, dass sein bloßer Anblick homosexuelle Lüste weckt, dass die Schwulen in aller Welt sein Bild als Wichsvorlage nutzen, dass er überall, wo er geht und steht, von schmachtenden Männerblicken verfolgt wird. Noch nach Jahrzehnten schildert er mit unverbrauchter Entrüstung einen ganz bestimmten Abend in Cannes: Nachdem seine Großmutter zu Bett ging, hätten sie ihn abgefüllt und abgeschleppt, eine Gruppe von Männern aus seinem Filmteam, ja, auch Visconti sei dabei gewesen. Plötzlich hätte er sich mit ihnen in einem Schwulenclub wiedergefunden. Roter Samt an den Wänden. Eine Atmosphäre des Lasters und der Lüsternheit. Wildfremde Männer, deren Blicke unverhohlen gierig an ihm klebten. Pfui Teufel! Die hätten ausgesehen, „als ob sie mir alle einen blasen wollten.“

Später werden solche Details zu einem Teil der tragischen Geschichte vom sanftmütigen mutterlosen schwedischen Teenager, den man der Welt zum Fraße vorwirft und der daran zugrunde geht. Aber sehen wir es nüchtern: Was Björn erleidet, ist nicht mehr und nicht weniger als das, was eine auffallend schöne Frau tagtäglich zu erleiden hat, ohne dass es jemandem als tragisch auffällt. Schönheit ist nun mal eine zweischneidige Gabe, Privileg und Fallstrick zugleich, aber wer sie besitzt, ob Mann oder Frau, wird in der Regel nicht darauf verzichten wollen, auch wenn er oder sie sich noch so bitter über die Leiden und Belästigungen beklagt, die damit verbunden sind.

Selbst Björn, obwohl lethargischen Temperaments und keineswegs von unbändigem Ehrgeiz getrieben, nimmt die Privilegien und Karrierechancen, die ihm durch seine Schönheit zufallen, gern an. Schon in Cannes taucht ein japanischer Produzent auf, der von dem Jungen euphorisch begeistert ist und ihn vom Fleck weg nach Japan engagiert, um ihn als Sänger, wie er sagt, groß herauszubringen. Das kommt Björns musikalischen und sängerischen Ambitionen entgegen, und so sagt er bereitwillig zu.

Seine Ankunft auf dem Tokioter Flughafen ist ein gesellschaftliches Großereignis, das einen Polizeieinsatz erforderlich macht; Zeitzeugen fühlen sich an die Tourneen der Beatles oder Stones erinnert. Die Japaner sind völlig aus dem Häuschen und bestaunen Björn wie einen Halbgott, der zu den Menschen herniedersteigt. Sie können kaum glauben, dass es eine Schönheit wie die seine wirklich gibt, dass ein realer Mensch über ein derart engelhaftes Aussehen verfügt. Mit seiner nordischen Blondheit, seiner schlanken, hochgewachsenen Gestalt und seinen ebenmäßigen, ganz dem europäischen Schönheitsideal entsprechenden Zügen bildet er den größtmöglichen Gegensatz zu dem dunkeläugigen, dunkelhaarigen, vergleichsweise klein gewachsenen Menschenschlag, der im Lande dominiert, und darin liegt offenbar eine Anziehungskraft, die dem Europäer kaum begreiflich ist. Es sieht aus wie ein Zufall, dass Björn seinen frischen Ruhm gerade nach Japan trägt. Doch der raffinierteste PR-Manager hätte kein Land für ihn aussuchen können, das auf seine spezifischen Vorzüge so begeistert anspricht wie dieses. In Europa war er eine kurzfristige Sternschnuppe, aufgeglüht aus einem einzelnen Erfolgsfilm. In Japan ist er eine Sensation, ein Superstar, eine Mensch gewordene Märchengestalt.

Ein ständiger Ehrengast, reist er durch das Land und nimmt überall die Opfergaben entgegen, die man seiner göttlichen Schönheit darbringt, das feinste Essen, die kostbarsten Geschenke, Ehrungen, Empfänge, Veranstaltungen, alles, was Japan zu bieten hat. Wo immer er auftaucht, bildet sich ein Pulk von weiblichen und männlichen Fans. Wieder schwirren ihm die Fledermäuse um den Kopf, noch dichter, noch aggressiver hier. Vielen Japanern genügt es nicht, den Wunderjungen bloß anzustarren; sie wollen seine Schönheit betasten, ergreifen, verschlingen wie ein köstliches Mahl. Hinter den Absperrungen strecken sie die Hände nach ihm aus. Sie reißen die Knöpfe von seiner Jacke. Sie fuchteln mit Scheren an seinem Hals, um ihm eine Locke seines honigblonden Tadzio-Haares abzuschneiden. Es ist der Ruhm in seiner härtesten Form, der Ruhm, der einen unerfahrenen jungen Mann euphorisieren, aber auch ins Irrenhaus bringen kann.

Dazu kommt bald auch neuerlicher Starruhm, denn der Produzent, der ihn engagiert hat, hält tatsächlich sein Versprechen: Er gibt Björn die Möglichkeit, als Schlagersänger aufzutreten, und erfüllt ihm damit einen Kindheitstraum. Björn ist beileibe kein Elvis – ohne seine Schönheit und ohne seinen Tadzio-Ruhm hätte er im Showgeschäft ganz sicher kein Bein auf die Erde bekommen. Aber er ist musikalisch, er spielt gut Klavier und singt nicht schlechter als die meisten, die sich in der Branche tummeln. Die Fans kaufen eifrig seine Alben, kaufen vermutlich auch die Schokolade, für die er im Fernsehen Reklame macht. Während Björn in Europa langsam, aber sicher in Vergessenheit gerät, wird er in Japan zu einem Teenie-Idol, dessen Bild über den Betten junger Mädchen hängt. Noch heute kann man ihn auf Youtube sehen, wie er mit sanfter Stimme sanfte japanische und englische Schlager säuselt, und obwohl er sich eigentlich nicht blamiert, hat man ein ungutes Gefühl dabei. Was man sieht, ist ein billiges Abziehbild der edlen Tadzio-Figur, die einem schönen Film zum Erfolg verhalf. Was man sieht, ist der Abstieg einer hochkarätigen literarischen und filmischen Ikone in die Niederungen der Massenkultur.

Der Schlagersängerruhm mag bald erloschen sein; doch auf einem anderen Gebiet der populären Massenkultur, der japanischen Zeichenkunst und Popart, übt das Erscheinen Björn Andrésens nachhaltigen Einfluss aus: Er wird zum Modell für eine landesweit bekannte Comic- und Zeichentrickfilmfigur. „Manga“ heißen die spezifisch japanischen Comics, während das, was wir als Zeichentrickfilm kennen, in der japanischen Variante einfach „Anime“ genannt wird. Beides erfreut sich größter Beliebtheit, und so hat diese Kunstrichtung in Japan über Jahrzehnte hin eine Vielfalt und Variationsbreite hervorgebracht, von der sich die wenigsten Europäer eine Vorstellung machen können. Man findet hier einen schier gigantischen Markt, dessen Sortiment vom puren Klamauk bis zum ambitionierten Kunstwerk reicht.

Eine der wichtigsten Figuren in der Welt der Animes und Mangas ist der „Bishonen“, der schöne junge Mann, eine Art Grund-Typus, vergleichbar mit dem Theaterrollenfach des jugendlichen Liebhabers. Ursprünglich kreiert als strahlend positiver Held und Märchenprinz, hat auch diese Figur, wie das gesamte Genre, ungezählte Differenzierungen, ins Grandiose wie ins Negative, entfaltet. Er kann Draufgänger sein oder androgyner Weichling, sensibler Liebhaber oder Partylöwe. Den Bishonen gibt es, seit es Mangas gibt; doch durch Björn erhält er ein neues Gesicht, genau das Gesicht, das die Japaner sich wünschen, das sie als Inbegriff der Schönheit und Vollkommenheit empfinden. Dutzende Anime- und Mangazeichner, darunter anerkannte Künstler, nehmen sich, wenn sie den Bishonen gestalten, Björns Züge, Björns Haare, Björns Figur zum Vorbild. Bis heute geistert sein Schatten durch die Mangawelt. Man mag das als ein Beispiel für die Vielschichtigkeit der Weltkultur betrachten, als ein Beispiel auch für fröhliche Respektlosigkeit gegenüber den hehren Werten der sogenannten Hochkultur; doch der europäische Kunstliebhaber kann nicht umhin, die Kluft zu sehen, die Thomas Manns Gedankenwelt von den knallbunten Comics trennt, und empfindet schmerzlich die Verballhornung und Vulgarisierung einer Gestalt, die einer weitaus reicheren und tiefgründigeren Sphäre entstammt.

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