Luchino Visconti, Björn Andresen

Private Tragödie 

Was ihn in die verkeimte Stockholmer Wohnung und in die Befindlichkeit eines Gescheiterten geführt hat, hängt vor allem mit seinem Privatleben zusammen. Auch hier findet nach den Turbulenzen der Jugend zunächst eine Konsolidierung statt. 1983 heiratet Björn Andrésen die Lyrikerin Suzanna Roman. Er wird Vater zweier Kinder, Robine und Elvin. Eine Zeitlang müssen die vier eine idyllische Ikea-Familie gewesen sein. Dann die Katastrophe: 1986 stirbt der kleine Sohn Elvin am plötzlichen Kindstod. Björn ist außerstande, diesen Schicksalsschlag zu verarbeiten. Er fällt in eine jahrelange Depression, beginnt zu trinken, muss mehr als einmal psychiatrische Behandlung in Anspruch nehmen. Seine Ehe zerbricht, die Tochter Robine wächst bei ihrer Mutter auf. Björn wird zum manifesten Alkoholiker, wozu auch beiträgt, dass er sich selbst die Schuld am Tod seines Sohnes gibt. In diesem Punkt ist er unzugänglich für alle Fakten und Vernunftargumente. „Hätte ich mich erwachsener verhalten, wäre das alles nicht passiert“, sagt er in einem Interview; und anschließend phantasiert er darüber, dass er Elvin im Jenseits wiedersehen werde.

So geschieht es, dass Björn mehr und mehr aus dem normalen Leben abdriftet, dass er vereinsamt, dass er gleichgültig wird gegen die Ansprüche des Alltags – seine Wohnung nicht mehr pflegt, sein Äußeres nicht mehr pflegt, seine Kontakte nicht mehr pflegt, nicht mal diejenigen zu Schwester und Tochter. Mit der Problematik seines frühen Ruhmes hat das nichts zu tun. Es sieht eher so aus, als wirke hier eine erbliche Vorbelastung durch seine Mutter, die ebenfalls zu Depressionen neigte. Ein Mensch wie Björn ist offenbar nicht dafür angelegt, glücklich zu sein. Er hätte in jedem Fall auf die Fehlschläge des Lebens mit gefährlicher Empfindsamkeit und übersteigertem Schmerz reagiert. Das Schicksal Björn Andrésens ist tragisch, gewiss, aber nicht, weil er als Junge ein Star war, sondern eher, obwohl er einer war.

Trotzdem zielt seine eigene Lebensbilanz und zielen auch die meisten Berichte über sein Schicksal auf die Tragödie des missbrauchten, ausgebeuteten Teenagers ab, der bis heute an den traumatischen Erfahrungen seiner verdorbenen Jugend leidet. „Vom tragischen Fluch, der schönste Junge der Welt zu sein“, übertitelt etwa der Journalist Kevin Fallon seine Rezension des bereits erwähnten schwedischen Dokumentarfilms; und dann beschreibt er denselben wie folgt: „Es ist eine Geschichte über die Tücken des Kinderruhms. Es ist eine Geschichte, die vor der Ausbeutung von Jungstars und vor der Kommerzialisierung von Schönheit warnt. Es ist eine Horrorgeschichte darüber, wie jemandem schon im Jugendalter die Entscheidungsfreiheit genommen wird, mit lebenslang anhaltenden Folgen. Es ist ein Einblick in den Generationenzyklus von Trauma, Schuld und Depression und in die scheinbare Unmöglichkeit, sich des eigenen Wertes bewusst zu werden.“

Starker Tobak, doch die Intention des Filmes wird durchaus treffend wiedergegeben. „Der schönste Junge der Welt“ ist eine einzige Anklage: gegen Visconti, der Björn als Instrument seiner eigenen Eitelkeit benutzte; gegen Björns Großmutter, die ihn, den Willenlosen, zu diversen Castings schleifte und seinen Ruhm dann mehr genoss als er selbst; gegen all die Produzenten, Veranstalter und Manager, die den armen Jungen durch ihre Mühlen drehten und Kapital aus seiner Schönheit schlugen, ohne je zu fragen, wie es ihm dabei ging. Und immer wird von Björn gesprochen wie von einem passiv Leidenden, als hätte er bei alledem nie mitreden, nie frei über sein Leben verfügen können.

Aber warum eigentlich nicht? Weil er zu jung war? Weil er zu wenig Willen und Initiative besaß? Es ist richtig, von allein wäre Björn zu keinem Casting gegangen; dafür war er niemals der Typ, weder mit vierzehn noch mit vierzig. Er war und ist vom Naturell her der Typ, dem man in den Hintern treten muss, damit er sich in Bewegung setzt. Doch natürlich hätte er nein sagen können, so wie selbst kleine Kinder schon nein sagen können, wenn sie etwas partout nicht wollen; und das hat er wohlbedacht nicht getan. Er hat sich seiner Großmutter nicht verweigert, als sie ihn zum Casting schickte, er hat sich Visconti nicht verweigert, als der ihn für seinen Film engagierte, und in beiden Fällen war es nicht die gefügige Bravheit eines Kindes, die ihn motivierte, sondern sein eigener Wille – ein kindlich unfertiger Wille, mag sein, und ein weiser Erzieher hätte ihm vielleicht geraten, doch besser Elektriker zu werden oder BWL zu studieren. Doch Björn selbst zog es schon in sehr jungen Jahren zur Musik und ins Rampenlicht; die Großmutter hat nur organisiert und in die Praxis umgesetzt, was er im Stillen für sich erträumte. Verdient sie dafür Schelte? War es ein Fehler, die Rolle anzunehmen, die Visconti offerierte? Die Antwort liegt in der Weltsicht des Betrachters. Doch die meisten Menschen hätten solch ein Angebot als Chance und Privileg gesehen und wenig nach den Risiken und Leiden gefragt, die sich daraus ergeben könnten.

Die vielbeklagte Ausbeutung und Vermarktung, die Björn über sich ergehen lassen muss, findet eigentlich erst in Japan statt, wo Björns Schönheit und Einzigartigkeit zur billigen Massenware verkommt. Aber dort wird er mit jedem Tag zu einem jungen Erwachsenen, der für sein Leben selbst verantwortlich ist. Kinderschutz und Kinderbonus kann er jetzt nicht mehr in Anspruch nehmen. Die seichten Schlager, die er singt, hat er später als reifer Mann abgelehnt, doch in seine damalige Teenie-Welt gehörten sie nun mal hinein. Und an seinem Wunsch, zu singen, zu spielen und Musik zu produzieren, hat das Erwachsenwerden nichts geändert. Ein Teenie-Star zu sein, ist an sich nicht das Schlimmste, was einem jungen Mann passieren kann; doch selbst wenn man davon ausgeht, dass der hochsensible Björn unter dieser Rolle gelitten hat, so trifft die Schuld daran nicht nur diejenigen, die ihn benutzten und dorthin dirigierten, wo sie Profit aus ihm schlagen konnten, sondern in erster Linie ihn selbst, weil er sich ohne Widerstand benutzen und dirigieren ließ – ohne Widerstand nicht sowohl aufgrund der ihm eigenen Lethargie als auch weil das, was von ihm verlangt wurde, bis zu einem gewissen Grade seinen Wünschen entgegenkam.

Stellen wir uns vor, Visconti hätte einen anderen Tadzio-Darsteller erwählt – wie wäre dann Björn Andrésens Weg verlaufen? Wäre er ein glücklicherer Mensch geworden? Oder ein noch unglücklicherer? So viel kann man mutmaßen, dass er zeitlebens in der geruhsamen Mittelmäßigkeit verblieben wäre, die seinem Temperament und seinen Fähigkeiten entspricht, und dass niemand je einen Grund gehabt hätte, Berichte über ihn zu schreiben. In einem Interview spricht er es selbst aus: „Ein Leben ohne ihn (Tadzio) wäre auf jeden Fall leichter gewesen, aber auch weniger interessant.“ Lassen wir es dabei bewenden. Sehen wir Tadzio als eine Art Naturgewalt, die einen gänzlich durchschnittlichen Menschen emporschleuderte aus der Bedeutungslosigkeit und ihn dann hart wieder zurückfallen ließ. Man kann darüber streiten, ob sie ein Glück oder ein Unglück für ihn war; doch auf jeden Fall hat sie sein Leben, das ansonsten vergleichsweise fad und langweilig verlaufen wäre, mit dem Glanz des Besonderen erfüllt und in den Rang eines Schicksals erhoben.

 

Comments powered by CComment