Am Ende wurde OJ Simpson gefasst und vor Gericht gestellt. Dort spielte dann die nächste Folge der OJ Simpson Reality Show, und sie übertraf in ihrer Absurdität alles, was sich selbst der erfindungsreichste Hollywood-Autor hätte ausdenken können. Die Indizien und Beweise waren so erdrückend, dass ein „normaler“ Angeklagter nicht die geringste Chance gehabt hätte, einen Freispruch zu erreichen. OJ Simpson indessen kaufte gleich ein ganzes Team von prominenten Anwälten ein, und sein Geld erwies sich als gut investiert, denn der gebündelten Kraft der Rechtsverdreher gelang es tatsächlich, ihn vom Haken zu holen.

Es war in erster Linie die Rassismus-Problematik, die ihren Erfolg ermöglichte. Erst kurz zuvor war der Schwarze Rodney King von weißen Polizisten brutal misshandelt und getötet worden, was nicht nur zu Rassenunruhen führte, sondern auch zu einer hochexplosiven Stimmung innerhalb der Gesellschaft, wo fortan Rassismusvorwürfe überall und ständig in der Luft lagen. Davon profitierte die Verteidigung – Rodney Kings Uhl war Simpsons Nachtigall. Zwar hatte er vordergründig niemals Wert auf seine Hautfarbe gelegt – gern zitiert man ihn mit dem bezeichnenden Satz: „Ich bin nicht schwarz, ich bin O. J.“, – doch jetzt wurde er von seinen Anwälten zum diffamierten Schwarzen aufgebaut, dem weiße Ermittler einen Strick drehen wollten. Es waren zum Teil personell dieselben Ermittler, die OJ jahrelang geschmiert hatte, damit sie über seine Prügelattacken gegen Nicole hinwegsahen; aber jetzt stilisierte man sie allesamt zu Teilnehmern einer Polizeiverschwörung und erklärte sämtliche forensischen Indizien in Bausch und Bogen für gefakt und gefälscht. Einer der Ermittler, der Polizist Mark Fuhrman, der tatsächlich rassistische Ansichten vertrat, wurde so existenzvernichtend demontiert, dass er selbst auf der Anklagebank landete. Die Jurymitglieder waren fast ausschließlich Schwarze; einer hob offen die Faust zum Black-Panther-Gruß, als er nach dem Freispruch Simpsons den Gerichtssaal verließ – seht her, die Rache für Rodney King!

150 Millionen Amerikaner – nahezu die Hälfte der Nation, was einen neuen Einschaltrekord markierte – schauten zu, als die Jury bei der live übertragenen Urteilsverkündung OJ Simpson des Mordes für nicht schuldig befand. Später sprach man ihm auch noch das Sorgerecht für seine beiden Kinder aus der Ehe mit Nicole Brown Simpson zu, was selbst dann nicht zurückgenommen wurde, als das Zivilgericht ihn für schuldig erklärte. Die Kinder wuchsen bei dem Mörder ihrer Mutter auf.

Innerhalb der schwarzen Bevölkerung herrschte lauter Jubel über den Freispruch. Dass hier ein Schwarzer, der zwei Weiße umgebracht hatte, spektakulär davongekommen war, galt als ein triumphaler Sieg im Kampf gegen die Rassendiskriminierung. Aber wer sich, ob schwarz oder weiß, zwischen Showrummel und Rassismushysterie noch ein Gefühl für den ursprünglichen Sinn der Rechtsprechung bewahrt hatte, der sah in diesem Freispruch eine ewige Schande für die amerikanische Justiz und einen Tiefpunkt in der Rechtsgeschichte des Landes. Insbesondere auf uns Europäer wirkt der Simpson-Prozess wie ein Katalysator, der all das in ein grelles Licht rückt, was uns an Amerika abstößt: die unverfrorene Macht des Geldes, mit dem der Reiche sich das Recht genauso kaufen kann wie einen flotten Schlitten; die fatale Rolle der Massenmedien, die jedes Ereignis als Show ausschlachten und damit als Realität völlig verzerren und entwerten; vor allem aber die verheerenden Auswirkungen der politischen Korrektheit, der ideologisch hochgespielten Parteinahme für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, die der Tod alles natürlichen Gerechtigkeitsempfindens ist. Wehe uns, wenn auch in Deutschland die politische Korrektheit den Siegeszug vollendet, auf dem sie schon jetzt gefährlich weit vorangeschritten ist!

Doch die amerikanische Justiz hat aus dem Schandurteil gelernt und wie zur Selbstheilung verschiedene Maßnahmen ergriffen, um es zu kompensieren und wiedergutzumachen. Die Gesetze zur Bestrafung häuslicher Gewalt wurden nach dem Simpson-Prozess verschärft, und ihre Einhaltung wurde strenger überwacht. Keine Frau sollte mehr ihrem Haustyrannen so schutzlos ausgeliefert sein wie Nicole Brown Simpson. Vor allem aber trat in dieser Phase überraschend das Zivilrecht in Aktion und übernahm es, in dem begrenzten Rahmen, der ihm zur Verfügung stand, einen gewissen Ausgleich für das geschehene Unrecht herbeizuführen.

Auch in den Vereinigten Staaten war es äußerst ungewöhnlich, dass auf den Freispruch in einem Strafprozess eine Zivilklage in derselben Sache folgte. Doch das Rechtssystem bot diese Möglichkeit durchaus, denn das Zivilgericht war an den Freispruch in der Strafsache nicht gebunden. Die Familien der beiden Opfer fanden einen exzellenten Zivilrechtsanwalt und klagten mit ihm auf die Feststellung, dass kein anderer als OJ Simpson ihre Angehörigen ermordet hatte, sowie auf Entschädigung für den ihnen dadurch entstandenen Schmerz und Verlust.

Auch vor dem Zivilgericht gab es eine Jury, doch diesmal bestand sie überwiegend aus Weißen. Und der Richter erklärte von Anfang an das Thema Rassismus für tabu und verhinderte konsequent, dass entsprechende Verschwörungstheorien die Wahrheitsfindung verfälschen konnten. Nachdem sich die Verteidigung dergestalt auf die objektiven Fakten und Beweise zurückgeworfen sah, gingen ihr schon bald die Argumente aus. Am meisten aber schadete OJ sich selbst: Als Zeuge im Gerichtssaal aufgerufen, wurde er vom Klägeranwalt gnadenlos vorgeführt und demaskiert in seiner ganzen selbstherrlichen Arroganz.

Die Jury erklärte OJ Simpson einstimmig des Doppelmordes für schuldig und verurteilte ihn zur Zahlung einer Entschädigung von insgesamt 33,5 Millionen Dollar. Es war ein großer Erfolg für die Klägerfamilien, juristisch und vor allem moralisch, doch in praxi wurde er zum Misserfolg, denn OJ Simpson dachte gar nicht daran, auch nur eine seiner sauer verdienten Millionen an die Klägerfamilien zu zahlen. Das Gericht hatte keinerlei Auflagen für den Fall der Nichtzahlung verhängt; und so zog OJ Simpson seelenruhig in das sonnige Florida um, wo Immobilien und Renten nicht gepfändet werden konnten. Er legte sein Geld entsprechend an und führte weiterhin das Luxusleben, das er gewohnt war. Bis heute (Stand 2024) hat er keinen nennenswerten Betrag an die Familien seiner Opfer gezahlt.

Stattdessen schockte er 2006 die Welt mit einer neuen Sensation: einem autobiografischen Buch, in dem er seine Morde thematisierte. Es trug den Titel „If I Did it“ (Wenn ich es getan hätte) und berichtete die Geschehnisse in dem hier schon anklingenden Konjunktiv, als eine Art Fiktion oder Möglichkeit, wie sie sich abgespielt haben könnten. Dadurch vermied der Autor ein direktes Geständnis, schaffte sich zugleich aber die Möglichkeit, seine Taten offen darzustellen, ja geradezu mit ihnen zu prahlen; denn es hat ganz den Anschein, als ob die beiden so überaus publicityträchtigen Morde und vor allem der Umstand, dass sie straffrei blieben, OJ regelrecht mit Stolz erfüllten und die Überzeugung von seiner Ausnahmestellung in ihm festigten. Er ist der klassische Träger des Gottkomplexes – seiner Natur liegt Selbstkritik so fern, dass Gewissen, Zweifel oder Reue nicht einmal im Ansatz aufkommen können.

Die Lektüre von „If I Did it“ hat die meisten Leser, erstmals oder endgültig, von OJ Simpsons Schuld überzeugt. Auch ein Fernsehinterview, das im Vorfeld der Buchedition entstand, gilt allgemein als verkapptes Geständnis. Hier wie dort schilderte er, nicht direkt, aber mit unverkennbarer Deutlichkeit, wie er seiner Exfrau auflauerte, wie es zur Auseinandersetzung zwischen ihm, Nicole und Ron Goldman kam – und dann folgte seiner Darstellung nach ein Filmriss, ein völliges Blackout der Erinnerung. Als er wieder zu sich gekommen sei, hätte er ein Messer in der Hand gehalten und alles ringsum voller Blut gefunden. Doch das sei  natürlich nur ein hypothetisches Gedankenspiel und in Wirklichkeit nie passiert.

Das Geständnis klingt überzeugend, sogar der Teil mit dem Blackout. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass OJ sich in einen Zustand weißglühender Rage hineinsteigerte. Dann aber hätte er an jenem Abend nicht „beschlossen“, Nicole umzubringen, wie die Anklage ihm vorwarf, sondern sie und das Zufallsopfer Ron Goldman im Affekt getötet – nein, nicht im Affekt, in einer Art Blutrausch, der außerhalb seines Bewusstseins lag. Das würde auch erklären, warum er selber sich trotz allem für unschuldig hält. Aber derartige Erwägungen, aus heutiger Sicht eigentlich naheliegend, haben in beiden Prozessen keine Rolle gespielt, so wie auch meines Wissens nie jemand die psychische Befindlichkeit OJ Simpsons näher untersucht hat. Womöglich ist der Mann sogar zu bedauern: Er hätte als Legende und Idol der Nation, als Verkörperung des amerikanischen Traums in die Geschichte eingehen können. Stattdessen symbolisiert er jetzt nur noch den amerikanischen Alptraum der Überhebung und Selbstzerstörung. Doch es fällt schwer, für jemanden Mitleid zu fühlen, der so selbstherrlich aus jedem Foto grinst.

Die Ankündigung von OJ Simpsons Buch löste zwar millionenfache Vorbestellungen, aber andererseits auch einen wahren Wirbelsturm der Empörung aus. Dass hier ein Mann aus einem Verbrechen, für das er nicht einmal bestraft worden war, nun obendrein noch Kapital schlug, wurde als dreister Zynismus und als Verhöhnung der Opferfamilien empfunden. Allein der Vorschuss, den OJ Simpson von seinem Verlag HarperCollins erhielt, soll mindestens eine Million Dollar, nach anderen Quellen sogar mehr betragen haben, zahlbar auf ein zugriffssicheres Treuhänderkonto. Ron Goldmans Vater rief zum Boykott des Buches auf und startete eine Gegenkampagne, um dessen Erscheinen zu verhindern. So vehement und so zahlreich waren die Proteste, dass HarperCollins sich genötigt sah, den Druck zu stoppen und den Titel aus dem Verlagsprogramm zurückzuziehen. Die zuständige Herausgeberin Judith Regan wurde gefeuert. Der Medienmogul Rupert Murdoch, dem der Verlag HarperCollins gehörte, sprach eine persönliche Entschuldigung aus: Das Verlagsprojekt sei eine „geschmacklose Fehlentscheidung“ gewesen.

Die Opferfamilien, die ja noch immer ihre 33,5 Millionen Dollar Entschädigung vermissten, sicherten sich auf anwaltlichen Rat die Rechte an OJ Simpsons Buch und brachten es in einer überarbeiteten und kommentierten Fassung heraus. Der neue Titel lautet „If I Did it – Confessions of a Killer“ (Wenn ich es getan hätte – Geständnisse eines Mörders), und sämtliche Erlöse daraus fließen den Familien Goldman und Brown zu, die es in einer Stiftung angelegt haben.

Es ist tröstlich, dass OJ Simpson später doch noch im Gefängnis landete. Sein Drang, Probleme mit Gewalt zu lösen, ließ sich ebenso wenig bändigen wie sein größenwahnsinniger Glaube, damit ungestraft davonzukommen. In welch vornehmen Kreisen er auch verkehrte, immer blieb er der wilde Junge, der mit seiner Gang um die Häuser zog und sich einfach nahm, was er haben wollte. 2007 zwang er in Las Vegas zwei Sammler von Fanartikeln mit vorgehaltener Waffe zur Herausgabe bestimmter Erinnerungsstücke, auf die er selber Anspruch erhob.  Diesmal bestrafte man ihn demonstrativ mit der vollen Härte des Gesetzes: Das Gericht interpretierte den Vorfall als bewaffneten Raubüberfall mit Geiselnahme und verurteilte OJ zu einer Haftstrafe von mindestens neun und maximal dreiunddreißig Jahren. Natürlich wurde es de facto nur halb so wild: OJ Simpson kam schon 2017 auf Bewährung aus dem Gefängnis frei, nachdem er kaum die Minimalstrafe von neun Jahren abgesessen hatte.

Inzwischen ist auch der Bewährungszeitraum abgelaufen. OJ erfreut sich wieder seiner Freiheit und lebt als rüstiger Rentner in Las Vegas. Aus verschiedenen Fonds bezieht er Pensionen. Die Angaben zu deren Höhe schwanken in den einzelnen Berichten; auf jeden Fall handelt es sich um eine monatlich fünfstellige Summe. Das klingt viel, aber theoretisch ist OJ Simpson hochverschuldet. Zu den noch immer ausstehenden Forderungen der Opferfamilien sind infolge des Raubüberfalles weitere hinzugekommen. OJ war einmal ein schwerreicher Mann, aber das berüchtigte „dreamteam“ von hochkarätigen Rechtsanwälten, das er sich für seine Verteidigung kaufte, muss Unsummen verschlungen haben, so dass an Rücklagen nicht mehr viel übrig sein dürfte. OJ Simpson scheint das nicht zu stören. Er weiß, wie man sich Geldforderungen vom Leib hält. Dem Vernehmen nach führt er ein sorgloses Leben. Er lebt in einer Villa, die ein Freund ihm großzügig zur Verfügung gestellt hat. Er spielt viel Golf, was schon von Jugend an sein Hobby war. Er hat sich seine Knie operieren und seine Augen lasern lassen. Hin und wieder twittert er eine launige Nachricht in die Welt. Es geht ihm gut.

Achtung: Dieser Aufsatz ist das "Abfallprodukt" einer größeren Arbeit, die mich gerade beschäftigt. Es geht um das Thema Migrantenbonus (oder auch "Kulturbonus") vor Gericht. Zu den geschilderten Rechtsbeispielen (hier ist es der Fall Frederike von Möhlmann) ziehe ich jeweils Parallelen heran. Sie sollen mit der Zeit eine kleine Reihe von historischen Kriminalfällen bilden, die ich in meinem Blog einstellen werde.

 

Comments powered by CComment