mia warum2. Mia und Abdul

Wieder handelte es sich um einen Afghanen, Abdul Dawodzai, und wieder war er als unbegleiteter und vermeintlich minderjähriger Flüchtling nach Deutschland eingereist. Seinen Asylantrag hatte man nicht bewilligt, doch als Jugendlicher konnte er nicht abgeschoben werden. Er lebte mit anderen jungen Flüchtlingen in einer betreuten Wohngemeinschaft, ein wilder, aufbrausender Junge, der sich schnell mal mit jemandem stritt und raufte. Sein späteres Opfer Mia Valentin lernte er in der Schule kennen. Eine Zeitlang waren die beiden ein Paar, bis Mia Anfang Dezember 2017 die Beziehung beendete, vermutlich weil der wilde Junge auf Dauer doch etwas zu wild für sie war.

Nun aber gab es richtig Ärger, denn Abdul empfand die Trennung, die von ihrer und nicht von seiner Seite ausgegangen war, als unerträglich. Wochenlang stellte er Mia nach, er überschüttete sie mit Hassposts, beleidigte sie in den sozialen Netzwerken und machte ihr tagtäglich das Leben zur Hölle. Unter anderem soll er gedroht haben, Nacktfotos von ihr zu veröffentlichen. Sowohl Mia selbst als auch ihre Eltern zeigten ihn wegen Stalkings an, und seitens der Polizei nahm man eine sogenannte Gefährderansprache bei Abdul vor, erst telefonisch und dann noch einmal bei einem persönlichen Besuch, da Abdul auf Vorladungen nicht reagierte. Man stellte ihm die möglichen Konsequenzen seines Stalkings vor Augen und forderte ihn nachdrücklich auf, dieses in Zukunft zu unterlassen. Aber solche Ermahnungen konnten den emotional aufgeladenen Jungen natürlich nur temporär erreichen.

Am 27. Dezember 2017 kam es zur Katastrophe. Abdul begegnete Mia in der Kleinstadt Kandel, wo die beiden zur Schule gingen, und verfolgte sie beim nachweihnachtlichen Shopping. In einem Supermarkt kaufte er, ein afghanischer Woyzeck, das längste und schärfste Küchenmesser, das er finden konnte, und lief damit entschlossenen Schrittes zur nahegelegenen dm-Drogerie, wo Mia nichtsahnend mit ihren Freundinnen Lippenstifte ausprobierte. Vor aller Augen stieß er ihr das Messer mehrmals in die Brust, und einer der Stiche traf sie mitten ins Herz, so dass sie noch am selben Tag im Krankenhaus starb.

Die Nachricht von dem Mord platzte wie eine Bombe in die träge Zeit zwischen den Jahren. Erst fünf Tage zuvor hatte im hessischen Darmstadt ein anderer afghanischer Flüchtling gleichfalls eine junge Frau mit einem Messer niedergestochen. Sie war gerettet worden, doch die kurze Zeitspanne zwischen den beiden Messerattacken musste bei den Bürgern den Eindruck erwecken, als lauerten praktisch hinter jeder Ecke messerwetzende Afghanen auf junge Mädchen. Das brachte die Gemüter in Wallung. Diesmal begnügte man sich nicht mit Schimpfkanonaden im Internet. „Kandel ist überall“ hieß programmatisch eine Bürgerbewegung, die von einer lokalen AfD-Abgeordneten gegründet wurde und die immerhin etwa viertausend Menschen in der Region mobilisierte, gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung auf die Straße zu gehen.

Sie waren nicht die einzigen. Fast jeden Tag rief irgendeine Partei, Gruppierung oder Initiative unterschiedlichster Couleur zu einer Demo oder Gegendemo auf. Es gab Kundgebungen, Schweigemärsche, Konfrontationen, flammende Reden und immer wieder händeringende Appelle, Mias Tod doch bitte, bitte nicht zu instrumentalisieren. Doch genau das geschah Tag für Tag. Insbesondere die AfD, die sich sehr rührig und sehr programmatisch engagierte, konnte durch den Fall politisch punkten. Hätten damals nicht schon die Maßnahmen zur Eindämmung der Flüchtlingskrise gegriffen (Schließung der Balkanroute, Abkommen mit der Türkei), der Tod der fünfzehnjährigen Mia hätte der Regierung Merkel durchaus gefährlich werden können.

Die Presse wirkte jetzt deutlich souveräner als ein Jahr zuvor im Fall Ladenburger. Die Herkunft des Täters zu verschweigen, wurde diesmal gar nicht erst erwogen; es wäre so zwecklos wie lächerlich gewesen. Stattdessen entbrannte eine kontroverse und vielschichtige Pressedebatte. Zwar wiederholten sich die tumben Schemata links gegen rechts und Feminismus gegen Frauenfeindlichkeit; es wiederholte sich sogar die Verärgerung über die Tagesschau, die den Mord zunächst gar nicht melden wollte („Tagesschau und tagesschau.de berichten in der Regel nicht über Beziehungstaten.“) und erst nach massiver öffentlicher Kritik von dieser Haltung abrückte. Doch gerade der Terminus Beziehungstat gewann jetzt eine weitergehende Bedeutung, die auch den Hintergrund des Täters einschloss. Tomas Avenarius warf in der Süddeutschen ebendiese Frage auf:

Was wäre, wenn der Afghane auch getötet hätte, weil er sich aus einem von Kind auf vermittelten Korsett archaischer Wertvorstellungen nicht befreien konnte? … Hat der vermutliche Täter neben traumatisierenden Gewalterfahrungen vielleicht auch eine Ehrvorstellung im Kopf, die es ihm als Mann nicht gestattet, von einer Frau verlassen zu werden? Schuldet er es dieser Ehridee, die Frau zu bestrafen, zu töten?

In die gleiche Kerbe schlug der ARD-Dokumentarfilm „Das Mädchen und der Flüchtling“ von Christian Gropper und Kai Diezemann, der die Fälle von Darmstadt und Kandel ausführlich beleuchtete. Das Filmteam reiste eigens nach Afghanistan, um sich in Abduls Heimatort nahe Kabul auf persönliche und kulturelle Spurensuche zu begeben. Man befragte die Dorfbewohner, befragte einstige Bekannte von Abdul. Sie alle nahmen seine Tat als selbstverständlich hin: „Als Paschtun kann er nicht akzeptieren, wenn seine Freundin ihn verlässt.“ Oder: „Frauen, die ihre Männer verlassen, müssen laut Koran gesteinigt oder getötet werden.“ Kommentar des Films: „Mit diesem grausamen Weltbild sind sie alle aufgewachsen. Es hat sie von klein auf geprägt.“

Das klingt fast entschuldigend für Abdul: Der arme Junge kann doch nichts dafür, er hat den Antrieb für seinen Mord schon mit der Muttermilch eingesogen. Mit ähnlichen Begründungen sind eine Zeitlang die berüchtigten „Ehrenmorde“ von den meisten deutschen Gerichten mit einem „Kulturbonus“ bedacht und relativ milde bestraft worden. Erst in jüngerer Zeit ist man von dieser Praxis wieder abgerückt – sehr zu Recht, wie ich finde, denn abgesehen davon, dass jeder Immigrant die Sitten und Gesetze seines Gastlandes zu achten hat, sind hinter den göttlichen Geboten, auf die sich solche „Ehrenmörder“ berufen, in den meisten Fällen doch ziemlich irdische und hässliche Motive erkennbar.

Im Fall Abdul liegen die Dinge meines Erachtens noch einmal anders. Er wurde nicht nur als Mann von einer Frau verlassen, sondern auch als rechtloser Flüchtling von einer etablierten Deutschen. Zuerst hatte man seinen Antrag auf Asyl abgelehnt und dann ihn selbst. Für mein Gefühl eignet ihm mehr von der Verzweiflung eines Woyzeck oder Othello als von dem starren Fanatismus jener „Ehrenmörder“, die ihre Frauen töten, weil sie nicht mehr funktionieren wollen. Dazu kommt noch sein unglückliches aufbrausendes Temperament, seine Unfähigkeit, sich selbst zu kontrollieren und mit Niederlagen umzugehen – kurz, eine „Systemsprenger“-Mentalität, wie man sie auch bei Jugendlichen europäischer Nationen findet.

Sogar noch während des Prozesses vor der Jugendkammer des Landgerichts Landau zeigte sich diese Mentalität und sorgte für einen turbulenten Eklat: Als Mias Mutter als Zeugin auftrat und mit stockender Stimme darüber sprach, wie sie den Tod ihrer Tochter erlebte, konnte Abdul das nicht ertragen. Er sprang auf mit dem Ruf „Ich will hier raus!“, er wurde handgreiflich gegen die die beiden Justizbeamten, die ihn festhalten wollten, beschimpfte, trat, bespuckte sie; einen soll er sogar angesprungen und gewürgt haben. Am Ende musste eine SEK-Einheit den Landauer Gerichtssaal regelrecht stürmen. Abdul wurde überwältigt und mit Hand- und Fußfesseln abgeführt. An diesem Tag kam unter den Zuschauern bestimmt keine Langeweile auf.

Der Ausraster wirkte sich nicht gravierend auf das Strafmaß im Urteil aus, was hauptsächlich daran lag, dass Abdul die Vorteile des Jugendstrafrechtes genoss. Zwar scheint auch er sich bei der Einreise nach Deutschland jünger gemacht zu haben, doch das gerichtlich angeordnete Altersgutachten kam zu dem unbestimmten Schluss, dass er zur Tatzeit zwischen 17 bis 21 Jahre alt gewesen war, sich also haargenau an der Grenze zum Erwachsenenstatus befand. Daraufhin stufte das Gericht ihn nach dem Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ als noch minderjährig ein, weshalb sein Fall vor die Jugendkammer kam. Eine Zeitlang stand sogar im Raum, auch seine Tat entsprechend herabzustufen und als Totschlag im Affekt zu bewerten. Doch am Ende verurteilte man ihn wegen Mordes und Körperverletzung des Justizbeamten zu einer Jugendstrafe von achteinhalb Jahren.

Im Gefängnis nahm Abdul ein tragisches Ende: Am Morgen des 10. Oktober 2019 fand man ihn erhängt in seiner Zelle. Er hatte schon zuvor versucht, sich umzubringen. Auch im Gefängnis war er ein „Systemsprenger“ geblieben, der ständig mit jemandem aneinandergeriet. Noch am Vorabend seines Todes hatte er ein Glas auf dem Schädel eines Mithäftlings zertrümmert. Doch immerhin: Von den drei Straftätern, die in diesem Aufsatz vorgestellt werden, scheint Abdul der einzige zu sein, der nicht aus krimineller Energie und persönlicher Verdorbenheit getötet hat, sondern aus „normaler“ menschlicher Leidenschaft.

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