III. Vermächtnis

Inzwischen sind (Stand 2024) mehr als vierzehn Jahre seit dem Tod Kirsten Heisigs ins Land gegangen. Längst bewegt sich die Berliner Jugendjustiz wieder im alten Trott – sofern sie denn überhaupt je richtig daraus aufgerüttelt worden war. Das „Neuköllner Modell“ wird in Berlin längst nicht mehr praktiziert, kommt dafür aber in Bayern (!) an einigen Jugendgerichten zum Einsatz – ja, das hat für den Berliner einen leicht ironischen Beigeschmack, aber was soll`s, besser dort als nirgends.

Viel schlimmer ist, dass nicht nur Kirsten Heisigs Werk weitgehend in Vergessenheit geraten ist, sondern auch ihre Berufsauffassung, das unorthodoxe Arbeitsethos, das sie ihren Kollegen vorgelebt hat, der umfassende Einsatz für die Belange krimineller Jugendlicher, der über die Akten und Delikte hinaus auch Prävention und Prognose einschloss und Sozialarbeit im Umfeld der Täter als unabdingbaren Bestandteil jugendrichterlicher Tätigkeit verstand. Das war die eigentliche Revolution, die Kirsten Heisig angestoßen hat, doch diese Revolution wurde niemals fortgesetzt oder auch nur angemahnt. Man fand es natürlich lobenswert, wie stark Kirsten Heisig sich engagierte, und man hat sie dafür geehrt, indem man in Berlin einen Platz nach ihr benannte; doch man sah ihr Engagement immer nur als ein persönliches Verdienst und nie als dringende Notwendigkeit im Kampf gegen die Jugendkriminalität. Sicher mag es auch heute noch kluge und engagierte Jugendrichter geben, die über ihren Aktenberg hinaussehen, doch das tun sie dann quasi auf freiwilliger Basis, und es steht ihnen genauso frei, sich um die Hintergründe ihrer Fälle nicht die Bohne zu bekümmern.

Was man heute aus Neukölln hört, klingt größtenteils beschwichtigend – Grundtenor: Es ist doch alles halb so wild. Schon im Jahr nach Kirsten Heisigs Tod hatte Justizsenatorin von der Aue die Zahl der Jugendrichterstellen reduziert und dies mit rückläufiger Kriminalität begründet. Tatsächlich haben andere Berliner Bezirke Neukölln längst überholt, in puncto Migrationsanteil und in puncto Jugendkriminalität. Die Verantwortlichen verweisen mit Stolz auf erfolgreiche Neuköllner Jugendprojekte und Integrationsmodelle. Seht her, scheint in den einschlägigen Medienberichten zwischen den Zeilen zu stehen, Kirsten Heisig hatte doch nicht Recht!

Es bleibt ein ambivalentes Gefühl: auf der einen Seite natürlich der Eindruck einer großartigen Frau. Selten habe ich ein Porträt mit so viel Bewunderung geschrieben. Ich war immer der Meinung, dass die deutsche Justiz nicht reformierbar sei, und ich hätte auch nie gedacht, dass sie eine solch integre und furchtlose Richterin hervorbringen könnte. Doch das Beispiel Kirsten Heisig zeigt, dass auf Basis der richterlichen Unabhängigkeit, die ich immer für einen Fake gehalten hatte, tatsächlich von Einzelnen weiter reichende Reformen angestoßen werden können. Wäre Kirsten Heisig am Leben geblieben, sie hätte nicht nur dem Jugendstrafrecht wegweisende Impulse geben, sondern vielleicht sogar die Kreise der arabischen Clanfamilien stören können.

Doch so gern man Kirsten Heisig als sympathischen und vorbildlichen Teil des Justizapparates sehen möchte, im Grunde ist sie eher ein Widerpart desselben, ein weißer Rabe, eine Außenseiterin, deren Ansichten zu Lebzeiten vielfach auf Unverständnis stießen und deren Tod vermutlich ein heimliches Aufatmen unter ihren Kollegen bewirkte. In allen politischen Systemen sind es überwiegend staatskonforme und staatsgläubige Menschen gewesen, die den Richterberuf ergriffen, und in allen politischen Systemen haben diese Menschen Urteile gesprochen, die die jeweils staatstragende Ideologie bestätigten und in die Praxis überführten. Weigerten sie sich, das zu tun, wurden sie angefeindet und ausgestoßen; eine Anerkennung erfolgte bestenfalls nach ihrem Tod.

Kirsten Heisig hat nachweislich unter den Anfeindungen aus den eigenen Reihen gelitten, hat sich deshalb isoliert und einsam gefühlt. Es heißt, sie saß beim Mittagessen in der Kantine oft allein am Tisch, weil niemand sich zu ihr setzen mochte. Hätte sie wirklich Selbstmord begangen, so wäre in der Vermutung, dass sie dem allgemeinen Druck nicht mehr standhalten konnte, das einzig schlüssige Motiv zu finden. Doch Belege gibt es auch hierfür nicht. Im Gegenteil, Kirsten Heisig hat sich offenbar trotz allem sehr stark als Deutsche und als Teil des Rechtsstaates gefühlt. Was sie tat, tat sie zum Besten ihres Berufsstandes und damit auch ihres Landes. Im Schlusswort ihres Buches bezeichnet sie es als ein „unglaubliches Glück…, als Frau in diesem Land zu diesem Zeitpunkt der Weltgeschichte leben zu dürfen“ und fährt dann fort:

Wenn ich mich in anderen historischen Phasen oder in anderen Teilen der Welt umschaue, fühle ich mich darin bestärkt, unserem Land etwas zurückzugeben, das jenseits der Ausübung meiner beruflichen Tätigkeit liegt – auch wenn ich dabei anecke.

Eine solche Frau hat unser Mitleid nicht nötig. Zu bemitleiden ist lediglich die deutsche Justiz, die mit Kirsten Heisigs Engagement so wenig anzufangen wusste, die bis heute so wenig daraus gelernt hat. Um ein Brecht-Wort abzuwandeln: Unglücklich die Justiz, die Helden nötig hat!

 

Achtung: Dieser Aufsatz ist das "Abfallprodukt" einer größeren Arbeit, die mich gerade beschäftigt. Es geht um das Thema Migrantenbonus (oder auch "Kulturbonus") vor Gericht. Zu den geschilderten Rechtsbeispielen ziehe ich jeweils Parallelen heran. Sie sollen mit der Zeit eine kleine Reihe von historischen Kriminalfällen bilden, die ich in meinem Blog einstellen werde. 

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