Vor der wuchtigen Symbolkraft dieses Szenarios sah der Rechtsstaat sich genötigt, nun doch Flagge zu zeigen. Hier ging es um mehr als begrabschte Busen und gezogene Brieftaschen. Das Geschehene musste lückenlos aufgeklärt werden, in seinem Ausmaß und in seinen Gründen. Der Landtag Nordrhein-Westfalen berief eigens einen Untersuchungsausschuss ein. Die Kölner Polizei gründete die „Soko Neujahr“, deren Mitgliederzahl ständig wuchs. Man durchpflügte die sozialen Netzwerke, wertete Handyvideos aus, ging den Strafanzeigen nach, die sich zusehends häuften – zuletzt belief sich ihre Zahl auf nicht weniger als 1.210. Doch die Anonymität der Menge, von der die Delikte begangen worden waren, machte die Ermittlungen schwierig. In der Tatnacht selbst hatten nur wenige Personalien festgestellt werden können, und selbst diese waren in den seltensten Fällen konkreten Vorfällen zuzuordnen.

Auch die betroffenen Frauen sahen sich kaum imstande, brauchbare Täterbeschreibungen zu liefern. Für die meisten Europäer sehen „die Migranten“ schon im Alltag ziemlich gleich aus; wie sollte da erst eine Frau, die in einem johlenden Kreis von Arabern und Afrikanern feststeckt, deren Gesichter genauer wahrnehmen? Und selbst wenn, wie sollte sie die Hände, die sie rings befummelten, diesen Gesichtern zuordnen können?

So stand am Ende eines riesigen Arbeitsaufwands – in der „Soko Neujahr“ arbeiteten zeitweise bis zu 140 Personen mit – ein denkbar mageres Ergebnis. Letztendlich konnten gerade 37 Täter überführt und juristisch belangt werden, die meisten wegen Diebstahls und Hehlerei. Nur sechs Personen erhielten ein Verfahren wegen sexueller Nötigung. Da die meisten der Beschuldigten Jugendliche oder Heranwachsende waren, wurden fast alle verhängten Strafen zur Bewährung ausgesetzt. Ein einziger Mann musste ins Gefängnis: Er hatte sich im Überschwang der Ausnahmenacht eines räuberischen Diebstahls schuldig gemacht und bekam dafür – ganz dicker Fisch! – ein Jahr und zehn Monate aufgebrummt. Im Grunde muss man konstatieren, dass die Täter von Köln ungestraft davonkamen und dass dies ein ziemlich übles Signal an sie war. Wer wollte, konnte daraus schließen, dass man innerhalb einer anonymen Menge jedes Verbrechen begehen konnte, ohne Strafe befürchten zu müssen.

Fast fataler noch war, dass auch der geistige Hintergrund der Vorfälle nicht ermittelt werden konnte. Man fand keine Hinweise auf Verschwörungen oder gezielte Verabredungen mit dem Vorsatz, deutsche Frauen sexuell zu belästigen. Aber was hatte die Leute denn bloß gebissen? Was hatte sie veranlasst, sich an diesem einen Abend und an diesem einen Ort zusammenzufinden? Man vermutete vage Mundpropaganda oder Weitergabe durch WhatsApp-Gruppen und andere soziale Medien; aber ganz wurde die Frage nach dem Wie nie geklärt, so wenig wie die Frage nach dem Warum, die von allen die verstörendste war.

Ja, warum? Natürlich gibt es auch dazu etliche Vermutungen. Da ist etwa das Schlagwort „Gruppendynamik“, das selbst dem psychologischen Laien in derartigen Fällen sofort in den Sinn kommt. Hätte man die Kölner Migranten damals nach dem Warum gefragt – was meines Wissens niemand je getan hat –, so wären sie wohl um Antworten verlegen gewesen. Sie hatten keinen bestimmten Grund – sie taten einfach, was alle taten. Es gibt in der Geschichte Beispiele genug von ganz normalen, sozial unauffälligen Menschen, die sich unter dem Druck der Gruppendynamik zu schwersten Verbrechen hinreißen ließen. Das ist beruhigend und unheimlich zugleich. Beruhigend, weil es den Einzelnen gewissermaßen der Verantwortung enthebt: Im Grunde kann er nichts dafür, im Grunde war es gar nicht er selbst, der diese schrecklichen Taten begangen hat. Sein Ich ist auf geheimnisvolle Weise in der blindwütigen Masse aufgegangen. Deshalb tun sich die Gerichte in aller Welt auch immer so schwer, Verbrechen zu bestrafen, die vom Willen einer größeren Menschengruppe getragen wurden.

Das bedeutet aber auch – und darin liegt das Unheimliche –, dass die meisten von uns, wie normal und friedlich sie als Einzelwesen auch erscheinen, im Kollektiv zum Furchtbarsten fähig sind. Schon ein kleiner Anstoß kann das mühsam in und um uns errichtete Gebäude der Zivilisation, der Humanität und Empathie zum Einsturz bringen. Die Kölner Migranten haben weder Morde noch Massenvergewaltigungen begangen; doch wäre es dazu gekommen, und sei es auch nur in einem einzigen der Kreise, die sie um die Frauen zogen, dann wäre dieser Anstoß vielleicht ausgelöst worden. Dann hätte die Gruppendynamik ihre ganze verheerende Macht entfaltet, und die wenigsten hätten sich ihr entzogen. Genauso prompt und selbstverständlich, wie sie den Frauen in die Höschen langten, hätten diese Männer ihnen auch die Kehlen durchschneiden können. So betrachtet war es schon eine brandgefährliche Situation, die sich da am Silvesterabend im Kölner Zentrum zusammenbraute. Der Gedanke, dass die Stadt womöglich nur knapp an einer Katastrophe vorbeigeschrammt ist, drängt sich ebenso auf wie die Befürchtung, dass eine solche Katastrophe unter bestimmten Konstellationen jederzeit und überall eintreten könnte.

Aber vielleicht muss man ja gar nicht, oder jedenfalls nicht nur von einer solchen quasi massenpsychologischen Motivation ausgehen. Erklärungen zur Kölner Silvesternacht gibt es auch auf anderen, pragmatischeren Ebenen. „Ausnahmezustand“ wäre zum Beispiel ein weiteres naheliegendes Schlagwort: Diese Männer wollten eigentlich nichts Böses tun. Sie wollten sich nur spielerisch abreagieren, wollten einmal die Sau rauslassen, so wie es die Kölner selbst alle Jahre wieder zum Karneval taten, wenn sie sich im Schutz ihrer Narrenkappen vom Frust des ganzen langen Jahres entluden; und auch dort ging es nicht immer gesittet zu. Natürlich wussten die Kölner Migranten, dass man deutschen Frauen üblicherweise nicht an Wäsche gehen darf; doch die Feier des Jahreswechsels muss ihnen – vielleicht infolge eines Missverständnisses europäischer Sitten und Gebräuche – als ein Ausnahmezustand erschienen sein, eine Art Walpurgisnacht, in der alles Verbotene erlaubt und alles Ferne kurzfristig erreichbar war.

Das Verbotene und Ferne bezieht sich vor allem auf die europäischen Frauen. Ihnen kommt bei den Ereignissen, wie immer man sie auch betrachtet, eine Schlüsselrolle zu. Der Kölner Imam Sami Abu-Yusuf ging so weit, die Übergriffe rundheraus mit dem provozierenden Erscheinungsbild der Europäerinnen zu erklären:

Einer der Gründe, weswegen muslimische Männer Frauen vergewaltigten oder belästigten, ist, wie sie gekleidet waren. Wenn sie halb nackt und parfümiert herumlaufen, passieren eben solche Dinge. Das ist wie Öl ins Feuer gießen!

Natürlich löste dieses Statement einen Shitstorm aus, begleitet von mehreren Strafanzeigen, so dass der Imam es später abschwächen musste; doch mit dem Wunsch, dass sich die Europäerinnen doch gefälligst etwas züchtiger kleiden und auf Parfums verzichten mögen, wenn sie den Herren Migranten vor die Augen treten, dass sich also die Gastgeber nach den Sitten der Gäste zu richten hätten, dürfte der Mann in der muslimischen Szene Europas nicht allein sein. Und er hat ja auch insoweit Recht, als ein offenkundiger Zusammenhang besteht zwischen dem äußeren Auftreten der Frauen und den Übergriffen, denen sie ausgesetzt waren. Bei den Migranten von Köln handelte es sich überwiegend um junge heterosexuelle Männer; viele waren erst vor kurzem im Zuge der großen Flüchtlingswelle 2015 nach Deutschland gekommen und wussten noch wenig über ihr Gastland. Doch sie hatten Abenteuerliches läuten hören von den deutschen Frauen, die so ganz anders lebten als diejenigen in ihren Heimatländern: Statt Gesicht und Figur zu verbergen, wenn sie den öffentlichen Raum betraten, stellten sie ihre Reize stolz zur Schau, ja hoben sie sogar noch kosmetisch hervor mit dem unverhohlenen Ziel, die Männer anzulocken. Sie konnten an Partys und Konzerten teilnehmen ohne männliche Begleitung, und sie konnten ungehindert von ihren Vätern oder Brüdern schon vor der Ehe Sex haben, wenn sie wollten. Besonders Letzteres ließ Gerüchte und wilde Phantasien wuchern. Die vermeintliche sexuelle Freizügigkeit der deutschen Frauen wirkte auf die muslimisch erzogenen jungen Männer verabscheuungswürdig und verführerisch zugleich – kein Wunder, wenn sich diese ungesunde Mischung aus Verachtung und Begehren unter den gelockerten Bedingungen der Silvesternacht in einem erotischen Culture Clash entlud.

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