Kirsten Heisig war Jugendrichterin, aber sie hat ihr Amt nicht nur auf Schreibtisch und Gerichtssaal beschränkt, sondern direkt in ihrem Neuköllner Kietz dafür gesorgt, dass die Urteile, die sie verhängte, auch konsequent umgesetzt wurden. Und sie hat Missstände angeprangert, wo ihre Kollegen wegsahen und schwiegen. Musste sie deshalb so früh sterben? Oder hat sie tatsächlich Selbstmord begangen, wie die Ermittlungsbehörden behaupten?

I. Arbeit

Berlin-Neukölln galt zu Anfang des Jahrtausends als einer der gefährlichsten Stadtbezirke nicht nur innerhalb Berlins, sondern deutschlandweit. Jeder zweite Einwohner hatte Migrationshintergrund; hauptsächlich waren es Araber und Türken, die das gesellschaftliche Leben ganzer Straßenzüge so stark dominierten, als befände man sich in einer Exklave des Libanon oder der Türkei.

Bedingt durch eine jahrzehntelang verfehlte und inkonsequente Migrationspolitik, die zum einen auf Marginalisierung, zum anderen auf schematische politische Korrektheit setzte, war bei vielen Einwanderern eine Integration in deutsche Verhältnisse, deutsche Gesetze, deutsche Normen nie erfolgt. Auch in der dritten, vierten Generation sprachen die Kinder nicht richtig Deutsch, sie besuchten nur sporadisch die deutschen Schulen und übernahmen von klein auf die Lebensmodelle ihrer ursprünglichen Herkunftsländer. Die daraus resultierenden Probleme waren seit Jahr und Tag bekannt: hohe Arbeitslosigkeit, schlechte Ausbildungschancen, rasante Kriminalität. Besonders unter den jungen Leuten war die Gewaltbereitschaft erschreckend: Die Jugendkriminalitätsrate lag neunmal höher als im bundesdeutschen Durchschnitt. Und fast 90 Prozent der polizeibekannten Täter hatten Migrantenhintergrund.

Wer unter solchen Gegebenheiten als Jugendrichter arbeiten wollte, brauchte Nerven, Mut und Durchsetzungsvermögen. Die Delikte, mit denen man sich konfrontiert sah, nahmen sich zum Teil so krass aus, dass schon die bloße Lektüre der Akten Überwindung kostete. Nicht selten waren die Aggressionen der ausländischen Jugendlichen gegen die Einheimischen gerichtet. Die Psychologen rätseln bis heute, woher sich wohl der Hass speist gegen das Land, das ihre Eltern und Großeltern einst aufnahm. Dieser Hass scheint weitaus tiefer zu liegen, als konkrete Anlässe erklären könnten:

… wenn man mit einem Schlagring, einem Gürtel oder mit einer Eisenstange zusammengeschlagen wird, weil man einen Araber angeblich zu lange angeschaut hat. Oder wenn eine alte Dame zu später Abendstunde um etwas Ruhe bittet und dann von drei „Arabern“ ins Gesicht geschlagen wird. Oder wenn der Polizeibeamte, der eine Anzeige aufnehmen muss, weil die Jugendlichen einen Zeitungsständer angezündet haben, zu hören bekommt: „Ich scheiß auf Deutschland. Du bist Dreck unter meinen Schuhen. Du bist tot.“

Anheimelnd war auch die Art und Weise, wie sich türkische und arabische junge Männer an deutschen Mädchen zu rächen pflegten, die ihnen widersprachen oder gar von sich aus eine Beziehung beendeten:

Es gibt Fälle, in denen das Mädchen in einen Hinterhalt, z. B. einen Keller oder auf ein entlegenes Gelände, gelockt und dann von mehreren Tätern, die der „Ex“ mitgebracht hat, sexuell auf schlimmste Art und Weise missbraucht werden. Mir sind Vorfälle bekannt, in denen die Opfer gleichzeitig orale und anale Penetrationen durch mehrere Täter ertragen mussten, bevor man sie, aus vielen Körperöffnungen blutend, wie einen unnützen Gegenstand zurückließ … Manchmal spricht auch die Erklärung eines Vergewaltigers in ihrer ganzen Schlichtheit für sich selbst: „Im Libanon hätte ich das nicht gemacht. Da hätte man mir ja den Schwanz abgeschnitten.“

Die Zitate stammen, wie auch die demnächst noch folgenden, aus dem Buch „Das Ende der Geduld“, in dem die einstige Neuköllner Jugendrichterin Kirsten Heisig ihre langjährige Arbeit mit jugendlichen Gewalttätern schildert. Sie war nicht zufällig gerade bei dieser Klientel gelandet – den Bezirk hatte sie sich selbst ausgesucht. Nach verschiedenen kurzen Stationen an „normalen“ Berliner Amtsgerichten ließ sie sich nach Neukölln versetzen wie an den ihr gebührenden Platz. Am Anfang war es wohl nur ihre enorme Arbeitswut und Energie, die nach dieser Herausforderung verlangte. Doch in dem Maße, wie sie die Probleme der Materie durchdrang, stellten sich höhere juristische und gesellschaftliche Ambitionen ein: Kirsten Heisig wollte das Jugendstrafrecht aufmischen, wollte neue Wege zur angemessenen Bestrafung von Gewalttätern finden, aber auch neue Wege der Prävention und der Resozialisierung. Und sie konnte es sich durchaus zutrauen, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen, denn unter ihren Richterkollegen war sie eine Ausnahmeerscheinung. Schon von ihrer Persönlichkeit und ihrer Präsenz her fiel sie sofort auf: Sie war attraktiv, schlagfertig, selbstbewusst – ganz das Gegenteil von einer staubtrockenen Aktenfresserin im Richterornat. Auf Fotos lachte oder lächelte sie meist. Ohne Scheu ging sie auf Menschen aller Couleurs und Nationalitäten zu, und sie wusste ihre Ansichten mit Überzeugungskraft vorzutragen. Bald galt sie innerhalb der Juristenszene als eine Art Shooting Star; sie trat in Talkshows auf, wurde in Artikeln porträtiert und schrieb zuletzt sogar ein Buch, in dem sie ihr „Neuköllner Modell“ einer breiten Öffentlichkeit präsentierte.

Das Neuköllner Modell ist eine kleine Justizreform für das Jugendstrafrecht, die Kirsten Heisig zusammen mit ihrem Kollegen Stephan Kuperion entwickelt hat. Hauptsächlich sollte es eine schnellere und effektivere juristische Bearbeitung von Jugendstraftaten ermöglichen. Besonders bei kleineren Delikten hielt es Kirsten Heisig für wichtig, dass die Bestrafung zeitnah erfolgte und dass nicht, wie zuvor üblich, Monate ins Land gingen, bevor es zur Gerichtsverhandlung kam. „Wenn meine Töchter ihre Zimmer nicht aufräumen, kann ich nicht drei Wochen später Fernsehverbot erteilen – das bringt gar nichts“, erklärte Kirsten Heisig, stets von dem Bewusstsein geleitet, dass sie sich beruflich ebenso wie privat in der Rolle einer Pädagogin befand, die die rechte Balance zwischen Strenge und Güte finden muss, um unfertige junge Menschen auf den rechten Weg zu leiten.

Trotzdem oder ebendeshalb war sie eine entschiedene Gegnerin der „Kuscheljustiz“, wie sie damals im Jugendstrafrecht überwiegend praktiziert wurde. Zwar den Grundgedanken, mehr erzieherisch als strafend auf jugendliche Straftäter einzuwirken, hielt auch sie prinzipiell für richtig. Doch Erziehung bedeutete für sie nicht, auf Strafe gänzlich zu verzichten, so wie es bei den meisten ihrer Kollegen, zumindest in jener Zeit, Usus war. Auch das Jugendstrafrecht als quasi abgemilderte Gesetzlichkeit enthält ein strafrechtliches Instrumentarium, das Gefängnisstrafen bis zu zehn Jahren ermöglicht. Dieses Instrumentarium muss nicht reformiert oder verändert werden; man sollte es einfach besser ausreizen, postulierte Kirsten Heisig, wenn die jeweiligen Delikte das erfordern; und just in ihrem Zuständigkeitsbereich gab es hinreichend solcher Delikte.

Natürlich machte sie sich mit den Urteilen, die sie auf der Basis ihrer kleinen Palastrevolution fällte, in Juristenkreisen wenig Freunde. Nicht nur ihre Eigenmächtigkeit empörte die „normalen“ Richter, sondern vor allem auch ihre Härte gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Damals wie heute war es leicht, den Gegnern der politischen Korrektheit „Rassismus“, „Populismus“ oder „Rachegelüste“ zu unterstellen. Man beschimpfte Kirsten Heisig als selbstherrlich und arrogant, als rigorose „Richterin Gnadenlos“.

Noch empörter waren die Migranten selbst, die jahrelang selbst für die härtesten Delikte nur Bewährungsstrafen bekommen hatten und die nun durch Kirsten Heisig erstmals im Arrest oder gar im Gefängnis landeten. Diesen Umschwung konnten sie nicht verstehen – er musste auf sie wirken wie die Pendelerziehung schlechter Eltern. In dem Dokumentarfilm „Tod einer Richterin“ kommt ein türkischer Jugendlicher zu Wort, einer der notorischen Gewalttäter, die zu wiederholten Malen die Jugendgerichte beschäftigten. Früher war er immer glimpflich davongekommen, und dann sitzt da plötzlich eine Kirsten Heisig, „Mrs. Tough“, auf dem Richterstuhl und will ihn doch tatsächlich für seine harmlosen Jugendsünden bestrafen. Wie soll dieser Junge in seinem Alter und bei seiner Vergangenheit begreifen, dass „Mrs. Tough“ es indirekt gut mit ihm meint, dass sie ihm eine Zukunft jenseits der Kriminalität ermöglichen will. Was kann er anderes für sie empfinden als Hass:

Wir haben sie gehasst, sie wurde richtig gehasst. Sie war für uns schlimmer als der Teufel. So, ich sag, wie es ist, ich will hier auch nichts schönreden. Sie war einfach schlimmer als der Teufel. Das ist so.

Hass von Seiten der Juristenkollegen, Hass von Seiten der jugendlichen Kriminellen und Hass nicht selten auch von Seiten ihrer Eltern, einfacher Menschen aus Anatolien oder aus dem Hindukusch, oft gänzlich isoliert in ihren nationalen Nischen und nicht fähig einzusehen, warum ihre Kinder deutsche Schulen besuchen oder deutsche Berufe erlernen sollten. Wollte Kirsten Heisig sich in all dem Hass behaupten, so musste sie Verbündete suchen, musste ihr Arbeitsfeld erweitern. Damals war es völlig unüblich, dass ein Richter seine Amtsstube verließ und sich direkt in der Mitte der Gesellschaft um die Verhinderung der Delikte bemühte, die ihm die Brötchen sicherten. Kirsten Heisig wurde auch in diesem Punkt zur Verfechterin eines neuen Modells, das Sozialarbeit auf natürliche Weise in die Justizarbeit integrierte. Die Vernetzung aller für die kriminellen Jugendlichen zuständigen Organe - Eltern, Jugendamt, Polizei, Gericht - war der wichtigste Teil ihrer Reform. Vormittags verhandelte sie ihre Fälle, aber an den Nachmittagen zog sie los in ihren Kiez, organisierte Elternabende, suchte Schulen und Polizeireviere auf, trank Tee in türkischen Familien. 

Besonderes Gewicht maß sie der Zusammenarbeit mit den Schulen bei. In Neukölln bewegte sich die Zahl der Schulverweigerer um die 20 Prozent. Anhand ihrer Akten stellte Kirsten Heisig fest, dass Kinder, die notorisch die Schule schwänzten, in verstärktem Maße kriminell wurden. Also verhängte sie gegen solche Kinder ganz regulär im Rahmen ihrer Urteile sogenannte Schulbesuchsweisungen; und die können juristisch durchgesetzt werden, mit Arrest für die Schulschwänzer selbst und mit saftigen Bußgeldern für deren Eltern. Nur wurde auch dieses Instrumentarium zuvor in der Praxis kaum angewandt. Die Lehrer ließen die Dinge einfach laufen, und die Eltern fanden den Punkt nicht wichtig. Kirsten Heisig nahm Kontakt mit den Klassenlehrern ihrer jungen Angeklagten auf. Sie konnte in vielen Fällen erreichen, dass man sie informierte, wenn mal wieder eine Schulbesuchsweisung gebrochen wurde; und sie zögerte nicht, die dafür vorgesehenen Strafen durchzusetzen, kaum je zur Freude der betroffenen Familien.

Unterschiedlich erfolgreich verliefen auch die Elterninformationsabende, die von Kirsten Heisig veranstaltet wurden. Während türkische Eltern für ihre Ansichten vergleichsweise aufgeschlossen waren, stieß sie bei den arabischen Familien größtenteils auf Unverständnis. In ihrem Buch „Das Ende der Geduld“ berichtet sie ausführlich über die Macht der arabischen Clanfamilien, die mittlerweile in Deutschland eine gefährliche Parallelgesellschaft gebildet haben:

Ich bin inzwischen zu der Auffassung gelangt, dass die Furcht vor den kriminellen Großfamilien alle anderen Aspekte bei Weitem überwiegt, denn hinter vorgehaltener Hand heißt es: „Man kann kein Kind zwangsweise aus einem arabischen Clan nehmen. Die Familien erschießen jeden, der das versuchen sollte.“ Angst ist aber ein schlechter Ratgeber. Sie lähmt das System und den Einzelnen. Deshalb müssen wir sie überwinden und handeln.

Staatlicherseits werden diese Zustände nach außen verschwiegen und im Innern widerstandslos hingenommen – auch die arabischen Clanfamilien zählen schließlich zu den Migranten und damit zu einer wichtigen Schutzgruppe der staatlichen Ideologie, die es zu fördern und nicht zu bekämpfen gilt. Doch Kirsten Heisig hat in ihrem Buch auch auf diese Wunde den Finger gelegt. Sie hat geschildert, wie schon zehnjährige Kinder unter ihren Mitschülern Macht erlangen, wenn bekannt wird, dass sie zu einer ganz bestimmten Familie gehören – wie palästinensische Flüchtlingskinder von der Drogenmafia als unbegleitete Minderjährige in Deutschland eingeschleust und dann systematisch zu Verbrechern abgerichtet werden. Musste die Frau deshalb so früh sterben? Offiziell war und ist ihr Tod ein Selbstmord – jede andere Vermutung gilt als Verschwörungstheorie. Doch nie ist eine Verschwörungstheorie fundierter und logischer gewesen als diejenige zu Kirsten Heisigs Tod, und nie gab es eine Frau, die sich besser zum Opfer eines Mafiamordes geeignet hätte.

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